"Wir wissen nicht, wann wir sterben"
Es ist früher Abend. Das Heulen der Sirenen in Poltava verstummt, der Luftalarm nimmt ein Ende. Nach 12 Stunden. Ungewöhnlich lange. Aber die Bewohner kümmert dieser ohnehin nicht. Das Leben muss weitergehen, auch im Krieg.
Vor einem Café treffen wir eine Gruppe von Freunden. Sie stehen zusammen, plaudern und rauchen Zigaretten. Schnell kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Sie stammen alle aus Poltava und kennen sich schon lange.
Eine der beiden junge Frauen erzählt, dass sie keine Angst hat, wenn die Sirenen in der Stadt zu hören sind. In einer Telegram-Gruppe informieren sie sich, wie groß die Gefahr tatsächlich ist. Dann entscheiden sie, ob es wirklich nötig ist, in den Bunker zu gehen.
"Wir müssen am nächsten Tag wieder fit sein und zur Arbeit oder Universität gehen. Die ständige Müdigkeit ist sehr belastend. Vor allem für die Psyche." Sie erklären uns die unterschiedlichen Arten von Drohnen und Raketen und welche Gefahren von ihnen ausgehen.
Die Ausführungen der Freunde sind sehr detailliert, fast militärisch präzise ausformuliert. Damit kenne sich in der Ukraine fast jeder aus. Das sei wichtig – für das tägliche Leben, aber noch wichtiger für das Überleben.
Ich muss es tun: Für meine Familie, meine Freunde und mein Land.
Der junge Mann in der Runde bringt sich ein. Sein Name ist Denys, er ist 22 Jahre alt. Denys ist gerade von der Front zurückgekehrt, erzählt er. Aktuell wartet er auf einen Krankenhaustermin, um sich seine Zähne richten zu lassen. Sein Gesicht ist vom Krieg gezeichnet. Die große Narbe über der Lippe versucht er beim Reden immer wieder hinter dem Schal zu verstecken.
"Ich kämpfe seit dem ersten Tag des Krieges. An der Front ist es schrecklich. Wir wissen nicht, wann wir sterben."
Denys: "Wir wissen nicht, wann wir sterben"
Der 22-Jährige zeigt uns ein Foto von seinem Bein. Ein tiefes Loch ist in seinem Oberschenkel zu sehen. Zwei Mal wurde er bereits schwer verletzt im Krankenhaus behandelt. Trotzdem will er zurück an die Front. "Ich muss es tun, für meine Freunde, meine Familie und mein Land."
Das andere Mädchen hält uns ihr Handy entgegen und zeigt ein Bild: "Schauen Sie, hier hatte ich ein virtuelles Date mit meinem Freund. Das war schön." Auf dem Foto ist das Mädchen hübsch angezogen und geschminkt. Ihr Freund trägt eine Militäruniform. Auch er kämpft gerade an der Front.
NATO: Eine Million Tote
Wie viele Soldaten und Soldatinnen in diesem Krieg gestorben sind, lässt sich unabhängig nicht vollständig klären. Der ukrainische Präsident sprach kürzlich von rund 43.000 ukrainischen Kämpfer:innen, die im Krieg gefallen sind. Die NATO schätzt die Zahl auf beiden Seiten auf insgesamt rund eine Million.
Jede Zahl steht für ein Menschenleben, ein Schicksal. Eindrücklich zeigen dies Fotos von gefallenen Soldat:innen entlang der Mauer beim St. Michaelskloster in Kyiv. Unter den Bewohner:innen hören wir: "Die Wände der ganzen Stadt reichen nicht aus, um all die Toten dieses Krieges zu plakatieren."
"Der Krieg muss enden, die Ukraine muss siegen"
Für die große Mehrheit in der Ukraine ist Aufgeben keine Option. Die Bevölkerung will diesen Krieg gewinnen, auch wenn man dafür viel opfern muss - seine Gesundheit, seine Freiheit, Menschenleben. Von Kriegsmüdigkeit will hier niemand etwas wissen. Dieses Wort ist ein Konstrukt des Westens, heißt es hier.
Aber klar ist auch: Jeder und jede wünscht sich ein Ende dieses blutigen Albtraums. Denn die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind hart: Mehrmals tägliche Luftalarme, die einen aus dem Schlaf reißen. Oder stundenlange Stromausfälle. Diese bedeuten: kein Wasser, kein Licht.
Ukraine: So gehen Schüler:innen mit Luftalarm um
Die Zwei-Wand-Methode
Wir treffen Tania in ihrem Zuhause in Kyiv. Sie lebt im 17. Stock. Täglich wird in ihrem Stadtteil der Strom für mehrere Stunden abgedreht. Eine App am Handy gibt den Zeitplan vor, aber oft stimmt dieser nicht. Vor allem dann, wenn Russland neue Energieinfrastruktur zerstört.
Oft gibt es zwischen sechs und acht Stunden keinen Strom. Dann muss die junge Ukrainerin 17 Stockwerke zu Fuß gehen. "Ich bin fit und sehe es als Sporteinheit. Aber was machen ältere Leute?"
Wenn man bei Stromausfall gerade im Lift ist, bleibt dieser stecken. Dafür hat sich die Hausgemeinschaft ein Notfallkit geschnürt: ein kleiner Sessel, ein medizinisches Set und ein paar Snacks. Oft muss man hier Stunden verbringen.
Und auch die Drohnen und Raketen sorgen für Beklemmung bei den Bewohner:innen im Hochhaus. Im letzten Jahr wurde das Nebenhaus getroffen. Zum Glück ohne Verletzte. Tania kann von ihrem Fenster aus manchmal sehen, wie Drohnen in der Luft getroffen und abgewehrt werden.
Je nach Gefahrenlage entscheidet sie, ob sie die 17 Stockwerke nach unten geht, um einen Bunker aufzusuchen oder ob sie sich zum Schlafen in ihren Kleiderschrank legt. Die Zwei-Wand-Methode ist gängige Praxis, wenn man sich vor zerborstenen Fenstern und Splittern schützen möchte.
Schwarzer Humor hilft
Die Ukrainer:innen haben den Krieg in ihren Alltag implementiert und eine Überlebensstrategie für sich gefunden. Ein Mittel ist schwarzer Humor – diesen nutzt auch Denys, der junge Soldat aus Poltava. "Ich sage zu meinen Kameraden: Ich habe zwar ein paar Zähne verloren, aber hey, ich kann laufen und bin am Leben, zumindest noch."
Das Leben kann jederzeit vorbei sein, fügt er hinzu. Niemand weiß, was als nächstes passiert.
Wir verabschieden uns von den drei Freunden in Poltava. Sie kehren ins Café zurück und spielen eine Runde Karten. Durch das Fenster sehen wir sie gemeinsam lachen. Zumindest in diesem Moment scheint der Krieg weit entfernt.
Magdalena Punz in der Ukraine
Zusammenfassung
- Seit fast drei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Zuletzt hat Russland seine Angriffe intensiviert.
- Das bedeutet tägliche Luftalarme, stundenlange Stromausfälle und viele Todesopfer.
- Wie kriegsmüde ist dieses Land mit seinen stolzen Bewohnern?
- Ein PULS 24 Lokalaugenschein in Kyiv und Poltava.