Mehrzahl der Pflegekräfte werden Opfer ihres Berufs
"Second Victim" (Zweitopfer) nennt man Behandelnde, also etwa Ärzte, Pflegekräfte und Physiotherapeuten, die aufgrund eines unvorhergesehenen Zwischenfalls, eines medizinischen Fehlers oder Patientenschadens beeinträchtigt wurden. Ein Team um die Intensivmedizinerin Eva Potura vom Verein Second Victim führte eine Online-Befragung bei Pflegekräften durch, die von Victoria Klemm (Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety, Deutschland) mit Kollegen ausgewertet wurde. Die Experten wollten ermitteln, wie viele Betroffene es in Österreich gibt.
928 Pflegekräfte beantworteten den Fragebogen. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) von ihnen wussten zunächst gar nicht, dass man in ihrem Berufsfeld zu einem Second Victim werden kann. Nach einer kurzen Erläuterung erklärten knapp 82 Prozent jedoch, dass sie sich nun als Zweitopfer erkennen, sagte Potura. Bei 63 Prozent der Pflegekräfte gab es sogar mehrere kritische Vorfälle, bei 18 Prozent "nur" einen, bei 19 Prozent keinen. In fast zwei Dritteln der Fälle lag er weniger als ein Jahr zurück.
Diese erschreckend hohe Rate an Betroffenen könne möglicherweise durch eine hohe Anzahl an gewaltvollen Vorfällen gegenüber Pflegekräften erklärt werden, so die Gesundheitsexpertinnen bei einer Pressekonferenz. Die meisten Teilnehmer (37 Prozent) nannten nämlich aggressives Verhalten von Patienten oder ihren Angehörigen, wie verbale Beleidigungen, körperliche Gewalt und sexuelle Belästigung, als auslösendes Ereignis. Auch der unerwartete Tod oder Selbstmord eines Patienten war häufig (bei 24 Prozent) die Ursache.
Außerdem spiele wohl eine Rolle, dass Pflegebehandlungen teils wegen Zeitdrucks oder Personalmangels ausgelassen oder verspätet durchgeführt werden müssen (Missed Nursing Care). "Die Ergebnisse unserer Studie sind alarmierend", sagte Klemm: "Im Vergleich zu internationalen Umfragen liegen die Werte sehr hoch". In Deutschland identifizierten sich zum Beispiel "nur" 60 Prozent der Pflegefachkräfte als Second Victims. Es gäbe deshalb im österreichischen Gesundheitssystem großen Handlungsbedarf.
Knapp 80 Prozent der befragten Pflegekräfte waren Frauen, sie litten stärker an Symptomen wie Schlaflosigkeit, das Wiedererleben des Vorfalls in ähnlichen beruflichen Situationen und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen als ihre männlichen Kollegen. Junge Pflegekräfte sind zudem stärker von Symptomen betroffen als jene, die länger im Berufsfeld tätig waren.
Über die Hälfte der Teilnehmer (57 Prozent) erhielt nach einem traumatischen Ereignis Hilfe. Diese war am häufigsten (zu 92 Prozent) bei ihren Kolleginnen und Kollegen zu finden. Dies zeige die zentrale Rolle, die Peer-Unterstützung (Hilfe von Gleichgestellten, Anm.) für das Wohlbefinden von Pflegekräften spielen kann. Diese Peers sollten speziell ausgebildet werden, um nach einem Ereignis für ihre Kolleginnen und Kollegen unterstützend da zu sein, erklärte Potura. Die Betroffenen wünschten zudem oft, das kritische Ereignis zum besseren Verständnis verarbeiten zu können, etwa durch schnelle Krisenintervention. Der Verein "Second Victims" vermittle dafür kostenlose psychosoziale Unterstützung, berichtete die Intensivmedizinerin.
Knapp ein Drittel (31 Prozent) erhielten keine Hilfe, hatten aber auch nicht darum gebeten, während 13 Prozent angaben, ihnen sei Hilfe verweigert worden, obwohl sie aktiv darum gebeten hatten, heißt es in der Studie. Die Unterstützungsmaßnahmen sollten deshalb dringend systematisch organisiert werden, genauso wie vorbeugende Deeskalations- und Kommunikationstrainings. Das könnte langfristig zum Verbleiben im Beruf beitragen.
Die Erhebungsstudie zur Häufigkeit des Second Victims Phänomen unter österreichischen Pflegekräften wurde vom Verein "Second Victim" in Wien und dem Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety (WiHelP) in Kooperation mit dem Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV) durchgeführt. Dazu befragten die Experten vom 15. September bis 12. Dezember 2023 jene Pflegekräfte, die Mitglieder des Österreichischen Gesundheits- & Krankenpflegeverbands (ÖGKV) sind. Die Befragten waren zwischen 31 und 50 Jahre alt und hatten elf bis 30 Jahre Berufserfahrung, berichtete Potura.
( S E R V I C E: Link zur Vorveröffentlichung/zum Preprint der Studie - https://www.preprints.org/manuscript/202408.1980/v1 )
Zusammenfassung
- Vier von fünf Pflegekräften in Österreich sind mindestens einmal emotional und psychisch beeinträchtigt worden, hauptsächlich durch aggressives Verhalten von Patienten oder deren Angehörigen.
- Knapp 82 Prozent der Pflegekräfte erkannten sich nach einer Erklärung als 'Second Victim', obwohl mehr als zwei Drittel vorher nichts davon wussten.
- 57 Prozent der Pflegekräfte erhielten nach einem traumatischen Ereignis Hilfe, meist von Kollegen, während 31 Prozent keine Hilfe erhielten und 13 Prozent Hilfe verweigert wurde.