ME/CFS: Treffen zur Konsens-Findung am 19. April
Teilnehmen sollen neurologische Experten aus den Bereichen Neuroinfektiologie, Neuroimmunologie, autonomer Dysfunktion und Schmerz sowie Experten aus anderen involvierten Fachdisziplinen, so die ÖGN - etwa aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Allergologie und Immunologie, Innere Medizin und Psychiatrie. Auch Betroffenen-Vertreter sowie weitere Stakeholder sollen dabei eine "breite, vorurteilsfreie und sachliche Diskussion zur Genese, Diagnose und Therapie von ME/CFS" führen.
Inhaltlich wollte man sich seitens der ÖGN auf APA-Anfrage zum Thema ME/CFS mit Verweis auf die Konferenz vorerst nicht näher äußern. Zuletzt hatten Experten wie Kathryn Hoffmann vom Zentrum für Public Health an der MedUni Wien sowie Praktiker aus Psychiatrie und Psychologie darauf hingewiesen, dass postvirale Infektionssyndrome (PAIS) wie Long bzw. Post Covid, aber auch ME/CFS oftmals als psychische Erkrankungen fehldiagnostiziert werden, was adäquate Behandlung verhindere. Fehlbehandlungen, die bei anderen Erkrankungen wie etwa Depressionen hilfreich sind, würden darüber hinaus bei ME/CFS teils starke Schäden verursachen.
Seitens der ÖGN verwies man zur Frage, inwieweit ME/CFS durch die Corona-Pandemie zugenommen hat und ob ME/CFS auch bei der aktuell laufenden Jahrestagung der ÖGN (13.-15. März) Thema ist, auf das geplante Konsensustreffen. Als Grundlage für die Diskussion wurde seitens der ÖGN u.a. auf zwei in der Fachzeitschrift "Der Nervenarzt" veröffentlichte Artikel, die u.a. von ÖGN-Past-Präsident Thomas Berger verfasst wurden, verwiesen - sowie auf die Entwicklung der S1-Leitlinie zum Management postviraler Zustände am Beispiel Post-Covid-19, an der die Gesellschaft mitbeteiligt war. Die ÖGN sei als wissenschaftliche Gesellschaft für Neurologie darum bemüht, aktuelle Entwicklungen im Fachgebiet unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Evidenz zu bewerten, so die Stellungnahme.
Bei dem Konsensus-Treffen dürfte wohl auch die Frage, inwieweit bei der Krankheit psychosomatische Aspekte eine Rolle spielen, Thema sein. Betroffenen-Organisationen beklagen stets eine oftmalige Einordnung ihrer Beschwerden durch Ärzte und Gutachter als "psychisch", was zu Fehlbehandlungen und auch Problemen bei Behandlung, Rehabilitation oder der Einschätzung betreffend der Arbeitsfähigkeit etwa durch Gutachter der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) führe.
Auch in der von der ÖGN genannten Übersichtsarbeit im "Nervenarzt" zu ME/CFS (abrufbar unter https://go.apa.at/Ns0ouhkI) heißt es, dass bisher "weder eindeutig kausale noch therapeutisch evidenzbasierte Ergebnisse in der langjährigen wissenschaftlichen Forschung zu ME/CFS" vorlägen. Und: "Nicht zuletzt aufgrund der relevanten psychiatrischen Komorbiditätsrate beim ME/CFS ist nach der aktuellen Datenlage eine psychosomatische Ätiologie der Erkrankung zu diskutieren." Der Artikel wurde nach seinem Erscheinen Anfang 2023 kritisch kommentiert, u.a. in einem von der deutschen ME/CFS-Spezialistin Carmen Scheibenbogen (Berliner Charite) und Kathryn Hoffmann mitverfassten Leserbrief im "Nervenarzt" (abrufbar unter https://go.apa.at/YtAwNvq2): Die Aussagen würden im Widerspruch zur aktuellen Evidenz stehen. Die Autoren "präsentieren keine Evidenz, dass ME/CFS eine psychosomatische Erkrankung ist", so die Kritik.
Nicht eingeladen wurde bisher die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS (ÖG ME/CFS), wie deren Obmann Kevin Thonhofer gegenüber der APA sagte. "Als ME/CFS-Patient:innenorganisation haben wir keine Einladung zum geplanten Konsensustreffen der ÖGN erhalten und sind damit als wichtiger Stakeholder leider nicht mit am Tisch", erklärte er in einer Stellungnahme.
"Wir begrüßen alle Initiativen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von ME/CFS Patient:innen", so Thonhofer. "Allerdings müssen diese auf klinischer und wissenschaftlicher Expertise zur Erkrankung aufbauen. Diese Schwerpunktsetzung sehen wir bei der ÖGN bisher nicht, wie beispielsweise die fehlende Betreuung von Patient:innen in entsprechenden Ambulanzen oder das aktuelle Programm der Jahrestagung der ÖGN zeigen." Seitens der ÖG ME/CFS hoffe man, "dass das Interesse der Patient:innen sowie ein Anschluss an internationale wissenschaftliche Erkenntnisse zu ME/CFS im Mittelpunkt stehen werden". Auch hoffe man, dass der Patientenorganisation eine "vollwertige Beteiligung, - entsprechend unserer gesundheitlichen Einschränkungen - noch ermöglicht wird", verwies Thonhofer auch darauf, dass die Teilnahme an einer reinen Vor-Ort-Konferenz für ME/CFS-Betroffene schwierig ist.
Eingeladen wurde die von der Bäckerei-Familie Ströck gegründete WE&ME-Stiftung. Allerdings habe man auf die Rückfrage, welche Agenda bei diesem Treffen angestrebt werde, noch keine Rückmeldung erhalten, sagte WE&ME-Leiterin Marie-Therese Burka zur APA. Wenn es darum geht, einen Konsensus zu erreichen, dann müssten verschiedene Richtungen und Instanzen vertreten sein, betonte sie. Es wäre jedenfalls wichtig, dass alle Fachgesellschaften inklusive der Neurologie bei einem solchen Treffen dabei sind, "da es sich ja um eine Multisystemerkrankung handelt" und interdisziplinäre Arbeit nötig wäre.
Aus dem Gesundheitsministerium hieß es am Donnerstag auf APA-Anfrage, man nehme seitens des Ministeriums an solchen Konsensfindungsprozessen nicht teil. Der fachliche, medizinische Austausch werde dann aber zur Kenntnis genommen - "und man bezieht die Ergebnisse natürlich für Entscheidungsfindungsprozesse ein", betonte eine Sprecherin von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne). Ende Dezember hatte der Ressortchef in einem Interview mit der APA zu diesem Thema erklärt: "Faktum ist, das sei schon auch gesagt: Man kann einfach nicht sagen, es existiert kein Long Covid oder ME/CFS ist eine Erkrankung, die quasi nur eine psychosomatische ist." Und: "Da sind die Betroffenen zu Recht verärgert, fühlen sich nicht ernst genommen und allein gelassen. Das ernst zu nehmen und da die entsprechenden Schritte zu setzen, das tun wir", versicherte Rauch.
Die WE&ME Stiftung hat am Donnerstag unterdessen zum zweiten Mal eine sogenannte Stakeholderkonferenz zum Thema ME/CFS abgehalten, wie sie in einer Aussendung bekannt gab. Teilgenommen hatten darunter u.a. Vertreter der Gesundheitskassa, der Stadt Wien und der MedUni Wien. Ebenso vertreten waren demnach die Selbsthilfeorganisation ÖG ME/CFS, die Pensionsversicherungsanstalt sowie die Wiener Ärztekammer.
Der Arbeitsprozess der von der Stiftung organisierten Konferenz wird vom ehemaligen Gesundheitsministers Rudolf Anschober geleitet, hieß es in der Aussendung. Neben dem vom aktuellen Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) angekündigten Referenzzentrum für Forschungsarbeit fordert die Konferenz eine qualitativ hochwertige Primärversorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie mehrere Kompetenzzentren für die Schwerpunktbetreuung. Aus sozialpolitischer Sicht wird auch eine Reform der sogenannten "Einschätzungsverordnung" gefordert, die zur Feststellung des Grads der Beeinträchtigung der Betroffenen dient - Ziel ist es hier, die soziale Absicherung zu verbessern.
ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) ist seit 1969 von der Weltgesundheitsorganisation beschrieben und anerkannt. Sie geht laut Informationen der Berliner Charité mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität einher. Zwar sind die Entstehungsmechanismen nach wie vor nicht hinreichend geklärt, laut aktuellem Forschungsstand könnte aber eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems Grundlage für die Erkrankung sein. Als Auslöser gelten in erste Linie bakterielle oder virale Infektionen. Betroffene leiden unter einer stark beeinträchtigten Leistungsfähigkeit (Post-Exertional Malaise), d.h. es kommt nach Anstrengung zu einer länger anhaltenden Zunahme der Beschwerden. Gekennzeichnet ist ME/CFS u.a. auch von Konzentrationsstörungen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Halsschmerzen sowie einen Verlauf über mindestens sechs Monate. Viele Patienten leiden an häufigen Infektionen oder neu aufgetretenen Allergien. Laut MedUni Wien kann die Krankheit (je nach Schweregrad) zu einer Behinderung und sogar zur Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit führen.
Zusammenfassung
- Die ÖGN veranstaltet am 19. April eine interdisziplinäre Konsensuskonferenz zu ME/CFS, um eine umfassende Handlungsempfehlung zu erarbeiten.
- Häufige Fehldiagnosen von ME/CFS als psychische Erkrankung führen zu inadäquaten Behandlungen und verschärfen das Leiden der Betroffenen.
- ME/CFS, eine seit 1969 von der WHO anerkannte Krankheit, zeichnet sich durch schwere Einschränkungen der Lebensqualität und Symptome wie Post-Exertional Malaise aus.