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Geplantes Referenzzentrum soll ME/CFS-Erkrankung "aufwerten"

Das vom Gesundheitsministerium kürzlich angekündigte Referenzzentrum für postvirale Erkrankungen ist für den Neurologen Michael Stingl "ein großartiger Schritt", weil dadurch die Erkrankung ME/CFS "aufgewertet wird", wie er im APA-Gespräch sagte. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom erlangte als eine Form von Long Covid größere Bekanntheit, es gibt aber nach wie vor keine Anlaufstellen, erläuterte der Mediziner. Diese brauche es zusätzlich zum Referenzzentrum.

ME/CFS ist ein der Neurologie zugeordnetes Thema, aber es gibt "in Österreich nur eine kleine Handvoll Leute", die sich damit beschäftigen, "und die sind komplett überlaufen", berichtete der ME/CFS-Spezialist, der in seiner Wahlarzt-Praxis in Wien einen Aufnahmestopp verhängt hat. "Es braucht einen Anfangspunkt von einer Anlaufstelle, wo Patientinnen und Patienten hingehen können", forderte er. Vor der Covid-Pandemie wurde die Zahl der ME/CFS-Betroffenen in Österreich auf 20.000 bis 30.000 geschätzt. Genaue Zahlen gibt es weiterhin nicht. Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS spricht mittlerweile von 26.000 bis 80.000 Erkrankten.

"Es ist natürlich nicht so, dass eine Handvoll Leute ein Problem dieser Größe stemmen kann", betonte Stingl. Es seien viele Menschen betroffen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. "Nicht alle sind bettlägerig." Hauptsymptom von ME/CFS ist die Post Exertional Malaise (PEM). Dabei handelt es sich um eine Belastungsintoleranz, die dazu führt, dass sich die Symptome, die deutlich über eine normale Erschöpfung oder Müdigkeit hinausgehen, nach oft bereits leichter körperlicher oder mentaler Anstrengung verschlechtern.

Das geplante Referenzzentrum soll als zentraler Knotenpunkt die Wissensvermittlung und Forschung sowie den Austausch mit der Praxis koordinieren und Betroffenen medizinische Betreuung auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ermöglichen, hatte Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) Mitte November angekündigt. "Es müssen die richtigen Leute dort sitzen, jemand der sich auskennt", empfahl Stingl. "Das wird die große Herausforderung sein."

Die Ankündigungen von Referenzzentrum und Nationalem Aktionsplan "sind wichtige Schritte in die richtige Richtung", teilte die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS auf APA-Anfrage mit. "Jetzt wird es darum gehen, wie und wann die konkrete Umsetzung erfolgt", betonten Kevin Thonhofer, Obmann der Betroffenenorganisation, und seine Stellvertreterin Astrid Hainzl. "Beim Referenzzentrum werden Ausrichtung, Besetzung und Finanzierung entscheidend sein, ob und wie es einen Beitrag zu Kompetenzaufbau und Forschung leisten können wird." Eine Beteiligung von Patientenorganisationen zu diesen Fragen sei leider nicht in Sicht. Zudem vermisse man weiterhin "konkrete Maßnahmen zur medizinischen Versorgung und sozialen Absicherung" der Betroffenen.

ME/CFS wird in 70 bis 80 Prozent der Fälle durch eine Infektion ausgelöst, darunter fällt seit der Corona-Pandemie auch Covid-19. Die Krankheit ist entgegen immer noch auftretender Behauptungen keine Einbildung, betonte Stingl. Es gibt Anzeichen, dass zu wenig Sauerstoff vom Blut ans Gewebe abgegeben wird, außerdem immunologische Auffälligen und Antikörper-Nachweise, die in Studien beschrieben wurden, erläuterte der Mediziner. Frauen sind deutlich häufiger an ME/CFS erkrankt als Männer und die Betroffenen meist 15 bis 45 Jahre alt. Er betreue auch viele sportliche Menschen. Leute, die bewegungsfreudig waren und sich schlapp gefühlt haben, hätten sich versucht "durchzupushen" - und das habe bei Post Exertional Malaise nicht funktioniert.

"Das wichtigste ist, herauszufiltern wer diese Post Exertional Malaise hat, bei dem diese Leistungsüberschreitung zu einer Verschlechterung führt", erläuterte Stingl. "Denen muss man 'Pacing' empfehlen." Das heißt, "dass die Aktivitäten an die Leistungsgrenzen angepasst werden und man da nicht drüber geht". Es bedeute aber nicht, gar nichts zu machen. Mit medikamentösen Therapieansätzen könne versucht werden, die Grenzen des "Pacings" nach oben zu schrauben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Zustand verbessert, sei dann oftmals "gar nicht schlecht". In der Behandlung werden laut Stingl großteils Medikamente eingesetzt, die "off label" sind, also ohne Zulassung für die Therapie von ME/CFS.

Er könne Betroffenen, die keinen Behandlungsplatz bei einem Arzt bekommen, "momentan leider nichts empfehlen, außer Druck zu machen" auf die Entscheidungsträger, sagte Stingl auf Nachfrage. "Die Pandemie war für die Wahrnehmung von ME/CFS wichtig", es habe sich aber für die Betroffenen "definitiv zu wenig" verbessert. Es fehle an Zahlen und Daten und die Versorgung sei sogar rückgebaut worden, verwies er auf die Schließung von Long-Covid-Ambulanzen, obwohl Menschen auf Wartelisten gestanden seien. Studien zeigen zwar klar, dass das Risiko von Long Covid mit neueren SARS-CoV-2-Varianten abgenommen hat. Aber: "Das Problem sind die Infektionszahlen an sich", erklärte Stingl bezüglich der aktuell starken Corona-Welle. Diese produziere wieder "viele Leute, die über zumindest mehrere Monate Einschränkungen in der Gesundheit und langfristige Probleme haben werden", warnte der Neurologe.

( S E R V I C E - Österreichische Gesellschaft für ME/CFS: https://mecfs.at/ )

ribbon Zusammenfassung
  • Das vom Gesundheitsministerium kürzlich angekündigte Referenzzentrum für postvirale Erkrankungen ist für den Neurologen Michael Stingl "ein großartiger Schritt", weil dadurch die Erkrankung ME/CFS "aufgewertet wird", wie er im APA-Gespräch sagte. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom erlangte als eine Form von Long Covid größere Bekanntheit, es gibt aber nach wie vor keine Anlaufstellen, erläuterte der Mediziner. Diese brauche es zusätzlich zum Referenzzentrum.