Behinderte fühlen sich im Katastrophenschutz kaum mitbedacht
In der Dokumentation "Rette sich, wer kann - wie der Katastrophenschutz für Menschen mit Behinderungen versagt" wird deutlich gemacht, dass sich seither kaum etwas geändert habe: Kein Ministerium, keine Instanz fühle sich zuständig für "eine Strategie, den Schutz von Menschen mit Behinderungen gleichermaßen zu gewährleisten". Dieses Versäumnis betreffe mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland und Österreich.
Der Film folgt den Ereignissen in Sinzig an der Ahr, wo im Juli 2021 jene zwölf Menschen mit Behinderungen gestorben sind. Was wäre nötig, damit Betroffene in Zukunft sicher sind, ist eine der im Fokus stehenden Fragen. Man zeige auch "einen Aspekt der Klimakrise, den viele andere journalistische Produktionen nicht oder zu wenig berücksichtigen", sagt die Journalistin Katharina Brunner, die Regie führte. Der Film mache zudem klar, warum inklusiver Journalismus wichtig sei. "Fluten, Dürren, Hochwasser - all das ist bereits Teil unserer Gegenwart. Die Klimakrise ist jetzt." Medien müssten sich damit beschäftigen, wie gut gerade auch die sogenannten vulnerablen Gruppen vor Extremwetter-Ereignissen geschützt werden.
Betroffene, Hinterbliebene sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe kommen zu Wort, Fachleute für Katastrophenschutz üben Kritik, dass für Lösungen die politische Umsetzung fehle. Muriel Sievers, die selbst nicht im Haupthaus der Lebenshilfe Sinzig wohnte, aber alle zwölf im Erdgeschoß der Einrichtung Ertrunkenen kannte, schildert rückblickend: "Es ist vor allem Wut. Wut darüber, dass man die Leute so hat sitzen lassen." Eine Angehörige, die ihren Bruder verloren hat, kann nicht verstehen, dass es nur eine Nachtwache für 38 in zwei benachbarten Häusern untergebrachte Personen gegeben habe. Der Vorstand der Lebenshilfe Ahrweiler gibt in dem Film zu, man sei auf eine Flutkatastrophe nicht vorbereitet gewesen, dies wäre Aufgabe von Behörden und Politik.
Das Auftreten von Naturkatastrophen und Tote verhindern könne man nicht, meint der Katastrophenforscher Friedrich Gabel. "Was wir verhindern können ist, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen viel stärker getroffen werden, dass sie viel häufiger Opfer werden." 106 der Toten waren über 60 Jahre, in dieser Altersgruppe habe fast jeder Zweite eine Behinderung, führt die Journalistin und "andererseits"-Geschäftsführerin Clara Porak aus. Nötig seien abgestimmte Einsatzpläne sowie Warnungen, die auch ankommen - Sirenen können nicht alle Menschen hören, Apps oder SMS sind nicht für alle barrierefrei, und oft seien Aussagen "nicht klar genug", etwa wenn über Regenmengen pro Quadratmeter informiert werde, aber nicht darüber, was das konkret bedeute.
Ein positives Beispiel für einen Ort, wo Verantwortliche das Problem angehen, sei die Gemeinde Treffen in Kärnten, namentlich die Notfallplanungen der Diakonie de La Tour. Auch die Landespolitik habe erste Schritte gemacht, seit Jahresanfang müssen Einrichtungen einen Sicherheitsbeauftragten haben. Zudem habe Kärnten rund 120 barrierefreie Stützpunkte mit Notstrom errichtet.
Der Schutz hänge aber allzu oft von Einzelnen ab, die Politik mache zu wenig, sagt "andererseits"-Redakteur Artin Madjidi. Und auch wenn Einrichtungen eigene Maßnahmen treffen, seien Heime generell doch auch "mit dafür verantwortlich dass Menschen mit Behinderungen immer noch nicht mitten in der Gesellschaft sind. Deshalb ist es auch so leicht, sie im Katastrophenschutz zu vergessen", erläutert Porak. Das sieht auch die Bundesbehindertenanwältin Christine Steger so. Die nächstliegende Maßnahme, sagt sie, wäre dass "Menschen mit Behinderungen in den Krisenstäben mit einbezogen werden".
Das Rechercheteam bestand aus Menschen mit und ohne Behinderung. "andererseits" wurde zuvor durch den Film "Das Spendenproblem" bekannt, der sich kritisch mit der Spendenaktion "Licht ins Dunkel" auseinandersetzt.
(S E R V I C E - Weitere Informationen: www.andererseits.org - https://andererseits.org/ueber-uns/ )
Zusammenfassung
- Menschen mit Behinderungen werden im Katastrophenschutz kaum mitbedacht, kritisieren Betroffene und Fachleute in einer Dokumentation, die von der inklusiven Online-Plattform "andererseits" am Dienstag veröffentlicht wurde.
- Anlass ist der zweite Jahrestag der Flut im deutschen Ahrtal am 14. Juli.
- 134 Menschen starben, zwölf von ihnen lebten in einem Wohnheim der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen.