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Tag der Kinderrechte: Ärmste Kinder der EU sind in Bulgarien

Jedes dritte Kind in Bulgarien ist armutsgefährdet. Das Land bildet damit das Schlusslicht der EU-27. Nach Ansicht von Experten bremsen politische Instabilität, Vorurteile und Desinformation Fortschritte im bulgarischen Sozialsystem. Die neue Sozialministerin Iwanka Schalapatowa will etwas zum Positiven verändern und setzt dabei auch auf Hilfsorganisationen, wie sie gegenüber österreichischen Journalisten sagte. Zuletzt war aber die NGO-Arbeit in Sofia in Gefahr.

Es sind vor allem Roma, die von Armut betroffen sind. 46,5 Prozent der armen Kinder in Bulgarien gehören laut UNO-Kinderhilfswerk UNICEF der Minderheit an, obwohl Roma keine zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ein großer Teil lebt in Zuständen, die manche in der EU nicht für möglich halten würden: in Baracken ohne Anschluss an Fließwasser, Strom, Kanal oder Müllabfuhr.

Kinder, die in großer Armut aufwachsen, haben ohne Hilfe wenig Chance, den Kreislauf des Elends zu durchbrechen. Von 47 Roma-Schulkindern, die sie betreuen, könnten es vielleicht 15 schaffen, sagt Jordanka Iwanowa, die Leiterin des Concordia-Tageszentrums "Malki Iskar" in einem kleinen Dorf etwa 55 Kilometer von Sofia entfernt, im Rahmen einer Pressereise zu österreichischen Journalisten. Iwanowa zählt die Roma-Familie von Biljana zu den Hoffnungsträgern. Die 25-jährige Biljana hat fünf Kinder. Drei davon besuchen täglich nach der Schule das Zentrum, das Kindern und Müttern pädagogische, gesundheitliche, psychologische, soziale Unterstützung sowie Essen und Duschen anbietet.

Biljana wohnt mit ihrem Mann, einem Forstarbeiter, und den fünf Kindern in einer abgelegenen Siedlung, einer sogenannten Mahala, nahe Malki Iskar. Die siebenköpfige Familie haust in einem undichten, kaum mehr als 10 Quadratmeter großen früheren Lkw-Container, und schläft in nur drei Betten. Über WC oder Dusche verfügen sie nicht. Wasser müssen sie von der einzigen Wasserstelle der Siedlung holen. Der Kühlschrank und die SAT-Schüssel funktionieren mit Strom, den sie sich von einer Leitung abgezweigt haben. Vor den löchrigen Baracken quillt der Müll. Wenn es regnet, versinkt der Weg im Schlamm. Drei von Biljanas Kindern besuchen trotz dieser Umstände jeden Tag die Schule. "Ja, sie gehen gerne und fehlen nie", erzählt die junge Mutter stolz.

Trotz Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr gibt es in Bulgarien jedoch Kinder, die nicht zur Schule gehen. Wie viele es sind, ist nicht bekannt. Der Bildungsexperte Ognjan Isaew, Direktor der Stiftung für Soziale Errungenschaften (Trust of Social Achievements) und selbst Angehöriger der Roma-Minderheit, sieht ein großes Problem in der Diskriminierung durch Gesetzesregelungen, die indirekt Roma mehr betreffen als die Mehrheitsbevölkerung. So würden etwa bürokratische Hürden den Erwerb von Identitätsnachweisen zur Herausforderung für die Bewohner der Mahalas machen, von denen rund 25 Prozent illegal seien. Ohne offizielle Adresse sei wiederum die Anmeldung zur Abschlussprüfung unmöglich, berichtet Isaew. Bis zur siebenten Schulstufe seien Schulbücher und öffentlicher Verkehr zwar gratis, aber danach zu bezahlen - für kinderreiche Familien wie Biljanas, die nur rund 200 Euro pro Monat an staatlicher Unterstützung bekommen, unerschwinglich.

Dazu komme noch die Segregation, also Schulen mit fast ausschließlich Roma-Kindern, die ein niedriges Niveau aufweisen. Schuld an dem niedrigen Bildungsstandard sind nach Ansicht Isaews aber nicht die Schüler selbst, sondern die "Vorurteile der Professionellen in diesen Einrichtungen". Einen Beweis dafür sieht Isaew in der Tatsache, dass etwa die Hälfte der bulgarischen Roma im Ausland lebt. Die große Mehrheit der Kinder dort wäre im Schulsystem "gut integriert". "Bulgarien verliert leider Humankapital", klagt Isaew - und das, obwohl es eines der Länder mit der am schnellsten sinkenden Bevölkerung in der Welt ist.

Auch der Direktor von Concordia Bulgaria, Stanimir Georgiew, bestätigt den Eindruck: Die sogenannten "Gypsy-Schulen" erhalten finanzielle Unterstützung nach der Anzahl der Anmeldungen. Allerdings seien die Schulen danach nicht sehr dahinter, dass die Kinder auch tatsächlich zum Unterricht erscheinen. Gleichzeitig betont er vor dem Internationalen Tag der Kinderrechte am Montag: "Viele der Roma-Kinder in Bulgarien sind erfolgreich, aber es bedarf ihnen der zwei- oder dreifachen Anstrengung".

Bogy zum Beispiel ist erst spät ins Schulsystem eingestiegen. "Meine Eltern ließen mich nicht in die Schule gehen." Die Frage nach dem Warum beantwortet die 19-Jährige gegenüber den österreichischen Journalisten nicht so klar. Es waren "Vorurteile", ergänzt Ivo Wantschew, der Leiter des Concordia-Tageszentrums "Posoka" im Sofioter Bezirk Orlandowzi. Bogy berichtet, dass "etwas Schlimmes" passiert sei, sodass sie und ihre zwei Schwestern von zu Hause davonliefen. Sie suchten Hilfe und fanden sie nach eigenen Angaben im Tageszentrum. Bogy fand Unterstützung für die Schule und den Alltag, weil sie nun "keine Eltern mehr habe", organisierte Freizeitaktivitäten wie Schwimmen und Wandern sowie Freunde. Concordia half ihr, mit fast 14 Jahren die Schule zu beginnen und wegen ihres Talents auch Fördergelder zu bekommen. Da sie zierlich ist, war zunächst nicht aufgefallen, dass Bogy viel älter als ihre Mitschüler ist. Als sie es sagte, reagierten diese schockiert. Mittlerweile lernt Bogy in einer WG mit ihren Schwestern im Selbststudium - auch wenn das sehr "schwierig" sei, wie sie zugibt.

Vorurteile gegenüber dem Schulsystem und Hilfsorganisationen sind teils auch das Resultat von Propaganda- und Desinformationskampagnen, erklärt Georgi Bogdanow. Der Vorsitzende des Nationalen Kindernetzwerks, eines Netzwerks aus 140 NGO und Einzelpersonen, die sich für Kinderrechte einsetzt, verdächtigt Akteure aus Russland und ultrakonservativen US-amerikanischen Kreisen, Lügen zu verbreiten. Hilfsorganisationen wurden von diesen Kreisen beschuldigt, Kinder aus den Schulen zu entführen und etwa nach Norwegen zu schicken, wo sie von Homosexuellen adoptiert würden. Bogdanow weist diesen Vorwurf als "absurd" zurück. Dennoch wirkte die Desinformation: "Eltern wurden verunsichert und nahmen ihre Kinder aus der Schule", erzählt er.

In bulgarischen Regierungskreisen blickt man etwa anders auf die Situation. Roma hätten jeden Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, nutzten diesen nur nicht, hieß es in Sofia. Auch die Existenz von Roma-Schulen wird offiziell verneint. Im Gegenteil: Schulen in Gegenden mit Roma-Mehrheit seien finanziell sogar besser ausgestattet als andere. Die Regierungskreise räumen aber ebenfalls strukturelle Probleme ein. Auch sie berichten von Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen gegenüber Roma, über Desinformation und mangelndem politischen Willen von Vorgängerregierungen. Manche politischen Parteien in Bulgarien seien nicht interessiert daran, die Lage von Roma zu verbessern. Denn so seien sie leichter zu manipulieren und für Stimmenkäufe zu haben. Diesen Vorwurf bestätigt der Roma-Experte Isaew nur bedingt. Für Stimmenkauf seien sehr arme Menschen empfänglich, auch Bulgaren, meint er.

Schalapatowa betont, "vor allem die Kinderarmut bekämpfen" zu wollen. Die parteilose Sozial- und Arbeitsministerin verweist gegenüber den österreichischen Medienvertretern auf das neue Sozialgesetz, mit dem auch die Qualität der Leistungen stärker überprüft werden soll. Schalapatowa, die selbst aus dem NGO-Bereich kommt, will mehr in die Prävention von Armut investieren. Sie verfolgt dabei einen integrativen Ansatz, der neben finanzieller Unterstützung auch Sozialdienste und Arbeitsmöglichkeiten umfasst. Dazu setzt sie außer auf staatliche Organe und Gemeinde-Institutionen auch auf Hilfsorganisationen wie Concordia, die das einzige Kinder-Krisenzentrum in Sofia betreibt. Wie lange Schalapatowa die Gelegenheit dazu hat, ist jedoch unklar. Die seit Juni amtierende Ministerin könnte von der Rotation der Regierungsämter nach neun Monaten betroffen sein.

Instabilität zeichnet die Politik Bulgariens aus, wo in den vergangenen zwei Jahren bereits fünf Parlamentswahlen stattfanden. Nach den Kommunalwahlen vom Oktober gibt es nun viele neue Bürgermeister. Hätte die sozialistische Bürgermeisterkandidatin für Sofia, Wanja Grigorowa, gewonnen, hätte das auch Auswirkungen auf die Sozialarbeit gehabt. Grigorowa, die selbst in der Roma-Siedlung Christo Botew geboren und aufgewachsen ist, hatte im Wahlkampf gegen "schmutzige NGOs" gewettert, berichtet Bogdanow. Grigorowa wollte Hilfsorganisationen auflösen und die Aufgaben den Gemeinden übertragen. Zur Erleichterung der Zivilgesellschaft verlor die Sozialistin die Stichwahl in der Hauptstadt im November, allerdings nur knapp. Grigorowa kündigte daraufhin an, die Wahl anzufechten.

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  • Jedes dritte Kind in Bulgarien ist armutsgefährdet. Das Land bildet damit das Schlusslicht der EU-27. Nach Ansicht von Experten bremsen politische Instabilität, Vorurteile und Desinformation Fortschritte im bulgarischen Sozialsystem. Die neue Sozialministerin Iwanka Schalapatowa will etwas zum Positiven verändern und setzt dabei auch auf Hilfsorganisationen, wie sie gegenüber österreichischen Journalisten sagte. Zuletzt war aber die NGO-Arbeit in Sofia in Gefahr.