Syrischer Flüchtling als IS-Kämpfer in Wien angeklagt
Der Syrer war 2019 nach Österreich geflüchtet und hatte im Folgenden um Asyl angesucht, das ihm 2020 genehmigt wurde. "Er wurde sehr genau durchleuchtet. Man hat nichts gefunden, was auf den IS hingedeutet hätte. Der geltend gemachte Asylgrund wurde anerkannt", hielt Drexler fest. Sein Mandant habe dann jahrelang als anerkannter Flüchtling in Österreich gelebt und sich in dieser Zeit nie etwas zuschulden kommen lassen: "Er hat brav gearbeitet. Er hat nie eine Verwaltungsübertretung begangen. Er ist nicht einmal bei Rot über die Kreuzung gegangen."
Im Vorjahr gingen bei der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) und weiteren Sicherheitsbehörden jedoch Hinweise aus Deutschland ein, die auf eine mögliche Verwicklung des Vaters von sechs Kindern in Kriegsverbrechen in seiner Heimat hindeuteten. Im Zuge eines in Deutschland geführten Ermittlungsverfahrens gegen mehrere mutmaßliche IS-Mitglieder war ein Propaganda-Video des IS aufgetaucht, in dem mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer auf einem Lkw zu sehen sind, bei denen es sich offenkundig um IS-Mitglieder handelt. Einer von ihnen brüllt eine IS-Parole in die Kamera. Dieser Mann sei ohne Zweifel der Angeklagte, stellte die Staatsanwältin fest, die in diesem Fall sehr penibel ermittelt hatte.
Der in Deutschland ermittelnde Polizist brachte zur Wiener Verhandlung neue Unterlagen mit, darunter ein Facebook-Profil, das mutmaßlich dem Angeklagten gehört. Der Polizist war bei seinen Untersuchungen darauf gestoßen. In den Beiträgen lege der Besitzer des Accounts "zumindest eine Sympathie mit dem Islamischen Staat" an den Tag, sagte der deutsche Ermittler. Der Angeklagte meinte dazu, er wäre auf keinem der Fotos zu sehen.
IS-Propandavideo im Gerichtssaal abgespielt
Das mit Nasheeds (islamischen Sprechgesängen, Anm.) unterlegte IS-Video wurde im Verhandlungssaal abgespielt. Zu sehen waren darauf beklemmende Szenen: Panzer und militärische Fahrzeuge in Aktion, Granatwerfer, die abgefeuert werden, Schlachtfelder und verstümmelte Leichen. Am Ende kommt ein auf der Ladefläche eines Lkw abgelegter Gefangener ins Bild, der von einem IS-Kämpfer am Kopf erfasst und Richtung Kamera gedreht wird. Danach ist ein weiterer IS-Mann zu sehen, der in arabischer Sprache ruft: "Das ist die Religion! Die Religion Allahs! Wir siegen!"
Gesichtsbiometrisches Gutachten belastet Angeklagten
"Wir haben ein gesichtsbiometrisches Gutachten eingeholt. Das Gutachten hat ergeben, dass es sich dabei um den Angeklagten handelt. Dass er sagt, er ist das nicht, ist völlig unglaubwürdig", bekräftigte die Staatsanwältin. Dem Sachverständigen zufolge beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem abgebildeten, in die Kamera rufenden Mann in dem Video um den Angeklagten handelt, 83,48 Prozent. Die Staatsanwältin betonte, es gebe zusätzlich Zeugen, "die ihn auf dem Video eindeutig wiedererkannt haben und darüber hinaus belasten."
Bei dem biometrischen Gesichtsvergleich, erklärte der zur Verhandlung erschienene Sachverständige, wurden die Aufnahmen des Protagonisten im Video mit Bildern vom Angeklagten verglichen. Das untersuchte Video habe jedoch "eine sehr gute Auflösung", was "die Robustheit der Messung" wesentlich verbessere, sagte der Gutachter. Bei der Analyse wurden jeweils die Abschnitte im Gesicht vermessen und miteinander verglichen. Da die Abstände jedoch immer von der Auflösung oder der verwendeten Linse abhängen, wird dabei mit Verhältnissen gearbeitet. Anschließend wird untersucht, wie außergewöhnlich die gemessene Ähnlichkeit ist. Weiters wird mit einem Datenkorpus an Aufnahmen von anderen Menschen gearbeitet, um beispielsweise sicherzustellen, dass es keinen Doppelgänger gibt, erläuterte der Experte.
Der aus der Analyse und dem anschließenden Vergleich zum Korpus abgeleitete so genannte Kappa-Koeffizient liegt im gegenständlichen Fall bei in etwa 84 Prozent. Das sei "eine fast perfekte Übereinstimmung", bemerkte der Sachverständige. Die Gefahr, dass es sich auf beiden Bildern nicht um dieselbe Person handle, sei "minimal".
Dem Angeklagten waren vor der Hauptverhandlung mehrere Fotos vorgelegt worden. Auf die Frage, ob er sich darauf erkenne, meinte er, er sei auf keinem davon zu sehen. Bei einem der ihm vorgelegten Fotos handle es sich jedoch um ein Bild, das der 39-Jährige auf einem offiziellen Dokument verwendet hätte, erläuterte ein weiterer Ermittler.
Drei Belastungszeugen aus Deutschland
Die Staatsanwaltschaft Wien konnte bei ihren Ermittlungen auf insgesamt drei Belastungszeugen aus dem deutschen Verfahren zurückgreifen, die dem Angeklagten direkte Tathandlungen für den IS unterstellt hatten. Zwei wurden im Ermittlungsverfahren anonymisiert geführt, ein Mann war bereit, seine Identität preiszugeben. Auf Basis dieser Beweislage wurde der 39-Jährige, der bis zu seiner Festnahme in Wien-Landstraße gelebt und als Restaurant-Mitarbeiter gearbeitet hatte, in U-Haft genommen.
Diese drei Zeugen standen im Wiener Prozess jedoch nicht zur Verfügung. Einer von ihnen ist mittlerweile nach Syrien zurückgekehrt, ein anonymisierter Zeuge wollte ebenso nicht nach Wien kommen wie der namentlich bekannte.
Im Prozess sagten drei in Österreich lebende Zeugen aus, die der Verteidiger ausfindig gemacht hatte. Alle drei Zeugen stammen aus dem Heimatdorf des Angeklagten. Die ersten beiden Zeugen meinten, die Haare des Mannes auf dem Bild, bei dem es sich laut dem Gutachten um den Angeklagten handeln dürfte, seien zu lang. Sie würden den Angeklagten nur mit kurzen Haaren kennen. Einer der beiden hatte allerdings den Angeklagten ursprünglich als jenen Mann identifiziert, der auf dem Video zu sehen ist. Er hatte dabei betont, anonym bleiben zu wollen, da er um das Wohl seiner Familie bange. Er widerrief vor Gericht seine vorigen Angaben und erklärte: "Er ähnelt ihm, ist aber nicht er." Der zweite Zeuge, der aus "demselben Familienzweig" wie der Angeklagte stammt, meinte, "überhaupt keine" Ähnlichkeit zwischen dem Angeklagten und dem Bild feststellen zu können. Der dritte Zeuge sagte aus, nicht sicher zu sein, ob es sich bei der Person auf dem Foto um den Angeklagten handle.
Terroristische Vereinigung und kriminelle Organisation inkriminiert
Die Staatsanwältin warf dem Angeklagten die Verbrechen der terroristischen Vereinigung und der kriminellen Organisation vor. Sie zeigte sich zu Beginn der Verhandlung überzeugt, beweisen zu können, dass der 39-Jährige im Jahr 2014 in Syrien an Kampfhandlungen des IS und an der Verfolgung von Jesiden beteiligt war. Er soll auch Gefangenentransporte durchgeführt und sein Geschäft für die Unterbringung jesidischer Gefangener zur Verfügung gestellt haben. Weiters soll der Mann in seinem Lokal - zunächst ein Friseur-Geschäft, später ein Handy-Shop - über Bildschirme IS-Videos abgespielt und Jugendliche und junge Männer für den IS angeworben haben. IS-Anhänger, die sich als so genannte Foreign Fighters von Europa nach Syrien begeben hatten, wurden laut Anklage wiederum vom 39-Jährigen "in Empfang genommen", wie sich die Staatsanwältin ausdrückte. Er soll sich um die ausländischen IS-Kämpfer gekümmert haben, ehe diese in Ausbildungscamps überstellt wurden.
Der IS verfolgte die Glaubensgruppe der Jesiden mit äußerster Grausamkeit. Im August 2014 wurden nach UNO-Angaben allein in der nordirakischen Stadt Sindschar 5.000 bis 10.000 Menschen ermordet. Dieses Verbrechen wird von den UNO als Völkermord eingestuft.
Für Verteidiger wurden falsche Vorwürfe "aus blankem Neid" erhoben
Der Angeklagte behauptete in seiner Einvernahme, bei den Vorwürfen handle es sich um falsche Anschuldigungen von Landsmännern, die mit seiner Familie "verfeindet" seien: "Zwischen den Familienverbänden gibt es immer wieder Probleme." Der Verteidiger erklärte, zunächst habe man den Bruder seines Mandanten "aus blankem Neid" zu Unrecht belastet. Dieser habe in Deutschland ein Restaurant aufgesperrt, was ihm Landsleute nicht gegönnt hätten. Weil man dem Bruder "nichts anhängen" habe können, sei man gegen den Angeklagten vorgegangen. In dem Geschäft in Syrien habe es keine Bildschirme gegeben, außerdem sei es "viel zu klein gewesen, um jesidische Frauen gefangen zu halten", sagte Drexler. Dem den Angeklagten belastenden Gutachten maß der Verteidiger insofern keine Bedeutung bei, als er ausführte, es sei "mit freiem Auge erkennbar, dass er nicht die Person ist, die mit einer Maschinenpistole auf einem Lastwagen steht."
Die Verhandlung wurde zur Erstellung eines weiteren Gutachtens auf den 2. April vertagt. Bis dahin soll geklärt werden, ob die Stimme des Angeklagten mit der Stimme des Protagonisten im IS-Video übereinstimmt.
Zusammenfassung
- Ein 39-jähriger syrischer Flüchtling wird in Wien wegen mutmaßlicher Verbrechen als IS-Kämpfer angeklagt, bestreitet jedoch alle Vorwürfe.
- Ein gesichtsbiometrisches Gutachten bescheinigt dem Angeklagten eine 83,48-prozentige Wahrscheinlichkeit, im IS-Video zu sehen zu sein.
- Die Staatsanwaltschaft stützt sich auf Zeugen aus Deutschland und ein IS-Propaganda-Video, das im Gerichtssaal gezeigt wurde.
- Der Angeklagte lebte seit 2019 in Österreich und erhielt 2020 Asyl, ohne vorherige Hinweise auf IS-Verbindungen.
- Die Verhandlung wurde auf den 2. April vertagt, um ein weiteres Gutachten zur Stimmenanalyse zu erstellen.