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"Angst vor dem Regime verloren": Wie Vučićs Macht bröckelt

Der Einsturz eines Vordaches in der Stadt Novi Sad im November löste eine Welle an Protesten in ganz Serbien aus. Lange richten sich die Proteste nicht mehr nur gegen die Korruption im Land – sie richten sich gegen die Demokratiedefizite sowie den Präsidenten und die Regierung, die dafür verantwortlich sind.

Belgrad, Serbien: Tausende Menschen versammeln sich am 22. Dezember auf dem Slavija-Platz, einem sonst vielbefahrenen Kreisverkehr. 15 Minuten lang verharren sie in kompletter Stille. Eine Minute für jeden der 15 Menschen, die durch den Einsturz eines Bahnhofsvordaches am 1. November 2024 in Novi Sad getötet wurden. Hinter dem Einsturz des Daches, das erst kürzlich renoviert und feierlich eröffnet wurde, wird Korruption vermutet.

"Eure Hände sind blutig"

"Eure Hände sind blutig", rufen die Demonstrant:innen schließlich. Eine rote Hand ist das Symbol ihrer Bewegung - einer Bewegung, die auch nach über zwei Monaten nicht schwächer wird.

Unterdessen wird das Regime von Präsident Aleksandar Vučić "immer nervöser", sagt auch der Balkan-Experte Vedran Džihić im Gespräch mit PULS 24.

Vom Studentenprotest zur landeweiten Bewegung

Begonnen hat diese Bewegung als ein Studentenprotest: Am 22. November halten Student:innen und Professor:innen der Fakultät für Dramakünste in Belgrad eine Gedenkkundgebung für die Menschen ab, die durch den Einsturz des Bahnhofsvordachs getötet wurden.

Dabei werden sie von einer organisierten Gruppe angegriffen. Einige Mitglieder dieser Gruppe werden als Funktionäre der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Vučić identifiziert. Auf die Anzeige der Fakultät und die Forderung der Studierenden, gegen die Angreifer strafrechtlich vorzugehen, wird nicht reagiert.

Am 25. November blockieren die Student:innen schließlich die Fakultät. Dieser Bewegung schließen sich zahlreiche andere Universitäten und schließlich auch einige Schulen an. Seitdem finden in Serbien fast täglich Proteste statt - die Blockade der Student:innen ist zu einer landesweiten Bewegung geworden.

Landwirte fahren mit ihren Traktoren auf die Straßen, Anwält:innen schließen sich den Protesten an, bekannte serbische Persönlichkeiten bekunden offen ihre Solidarität

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Immer wieder Angriffe auf Demonstranten

Die Demonstrant:innen fordern, dass die Regierung das tut, was in der serbischen Verfassung und im Rechtssystem verankert ist: Dass die Verantwortlichen für das Unglück in Novi Sad, aber auch die Täter:innen hinter den zahlreichen Angriffen auf die Demonstrant:innen rechtlich geahndet werden.

Dass der öffentlich-rechtliche Fernsehsender RTS seiner Arbeit nachgeht und über die Proteste berichtet, anstatt sie völlig in seiner Berichterstattung zu ignorieren. 

Sie fordern ein System und eine Gesellschaft ohne Gewalt, eine Regierung ohne Korruption.

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"Angst vor dem Regime abgelegt"

Proteste sind in Serbien nichts Neues. Bisher habe es das Regime von Aleksandar Vučić aber immer mit unterschiedlichen Mitteln geschafft, diese abzuwürgen - "entweder durch Abwarten oder mit Druck, auch auf die Medien", erklärt Balkan-Experte Vedran Džihić im Gespräch mit PULS 24.

Diesmal sei jedoch etwas anders. Denn trotz einer Verhaftungswelle, des Einsatzes von Gewalt und unterschiedlicher Versuche des Regimes, die Studierenden zu diffamieren, werden die Proteste von Tag zu Tag nicht schwächer, sondern "sogar stärker", betont Džihić. 

Die Reaktion der Regierung und Präsident Vučićs scheinen für die Demonstrant:innen nur noch ein Grund mehr zu sein, weiterzumachen. Denn Vučić selbst behauptete zunächst, die Student:innen wurden aus dem Ausland bezahlt, um in Serbien Unruhe zu stiften. Dann schob er die Schuld auf die Professor:innen, die die Student:innen dazu aufgehetzt hätten. Mal behauptete er, die Proteste seien ihm "eigentlich egal", mal drohte er den Demonstrant:innen.

Dabei handle es sich um die üblichen Mittel, mit denen Vučić die Proteste einzudämmen versucht - jedoch erfolglos. Denn es gebe noch einen bedeutenden Unterschied zu den bisherigen Protesten in Serbien, wie Džihić sagt: "Die Demonstrant:innen haben scheinbar die Angst vor der Reaktion des Regimes abgelegt."

In einem kompetitiv-autoritären Regime sei Angst das wichtigste politische Mittel, um die Menschen zu kontrollieren und Druck auszuüben. "In diesem Moment, wenn die Angst verschwindet, wendet sich oft das Blatt."

Vučić-Sturz "nicht ausgeschlossen"

Und so einen Druck habe der serbische Präsident in seiner bisherigen Amtszeit noch nie gehabt, so Džihić. Das Regime werde "zunehmend nervös".

Deshalb könne Vučić nun versuchen, auf ein paar Forderungen der Demonstrant:innen einzugehen, um sie zu beschwichtigen und dafür noch "bestimmte Köpfe in der Regierung opfern", betont der Balkan-Experte. Letzteres Mittel nützt Vučić bereits: Am Montag kündigt er eine "Regierungsumbildung" an, am Dienstag trat der Ministerpräsident Miloš Vučević zurück.

Dass auch Vučić zurücktritt, hält der Balkan-Experte eher für unwahrscheinlich. Der serbische Präsident sei sehr "machtbewusst" und werde "bis zur letzten Sekunde um den Erhalt des Regimes kämpfen", meint Džihić. Das Regime verfüge immer noch über sehr mächtige Machtsäulen: Die regierende Serbischen Fortschrittspartei (SNS) kontrolliert zahlreiche Institutionen, auch die Polizei, die Armee und viele Medien.

Es sei nicht davon auszugehen, dass das alles "von heute auf morgen zusammenbricht". Dass Vučić gestürzt werden könnte, sei aber trotzdem "derzeit nicht ausgeschlossen". Denn der Zenit seiner Macht sei "schon längst überschritten" und es könnte tatsächlich dazu kommen, dass er die "Situation nicht mehr kontrollieren kann". 

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Westen reagiert nicht

Komme es zu einem Regime-Sturz, stelle sich aber die wichtige Frage, wer statt Vučić regieren würde. Die demokratische Opposition in Serbien ist immer noch sehr schwach, zerstritten und genießt kein hohes Ansehen in der Bevölkerung. 

Und auch der Westen lässt die Demonstrant:innen in Serbien derzeit im Stich. Denn trotz Vučićs autoritärer Regierungsführung, verhalten sich sowohl die EU als auch die USA seit Jahren sehr "passiv" und agieren auch derzeit "nicht nur nicht unterstützend, sondern sogar selbstbeschwichtigend".

Trotzdem scheint der Kampfdrang der Demonstrierenden für Demokratie und Transparenz noch lange nicht nachzulassen. Am Montag organisierten sie eine 24-stündige Blockade der "Autokomanda", einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Belgrads, an der Tausende Menschen teilnahmen.

Die Studierenden erinnern regelmäßig daran, dass ihre Forderungen noch nicht erfüllt sind und lassen ausrichten: "Solange es Gewalt gibt, wird es Blockaden geben".

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ribbon Zusammenfassung
  • Der Einsturz eines Vordaches in der Stadt Novi Sad löste eine Welle an Protesten in ganz Serbien aus.
  • Lange richten sich die Proteste nicht mehr nur gegen die Korruption im Land – sie richten sich gegen die Demokratiedefizite und den Präsidenten und die Regierung, die dafür verantwortlich sind.