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Sechs Monate nach Erdbeben in Türkei: "Die Leute wollen hier weg"

Mehr als ein halbes Jahr nach dem verheerenden Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze ist die humanitäre Lage in der Türkei weiterhin angespannt. Besonders Minderheiten und syrische Geflüchtete leben immer noch unter teils katastrophalen Bedingungen.

Früher gab es gegenüber von ihrer Wohnung in Elbistan in der türkischen Provinz Kahramanmaraş einen Supermarkt, erzählt die 28-jährige Gamze. "Letzten Sommer sind wir alle paar Stunden in diesem Laden gewesen, er war nur zwei Schritte entfernt. Wenn ich jetzt von unserem Balkon nach unten sehe, ist alles weg."

Auch mehr als ein halbes Jahr nach den Erdbeben, die am 6. Februar die türkisch-syrische Grenzregion erschütterten, sind die Auswirkungen an jeder Ecke zu spüren. "Das Bild der Stadt ist ganz anders", sagt Gamze. Normalerweise lebt sie in Wien. Vor wenigen Tagen hat sie Elbistan, wo viele ihrer Verwandten leben, zum ersten Mal wieder besucht. "Ich verirre mich andauernd, weil so viele Gebäude kaputt sind, dass ich nicht mehr weiß, wo etwas liegt."

Dabei hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem Beben angekündigt, 600.000 Häuser für die Millionen Obdachlosen zu bauen und die Städte sicherer zu machen. An vielen Orten merkt man davon ein halbes Jahr nach dem Beben wenig.

Am wenigsten in der Provinz Hatay. Die Hilfe dort dreht sich immer noch um Grundlegendes: Wasser, Lebensmittel, ein Dach über dem Kopf. Die 400.000-Einwohner:innen-Stadt Antakya wurde in Schutt und Asche gelegt. Sechs Monate später sind immer noch 92 Prozent der Stadt zerstört, der Wiederaufbau hat – anders als in Elbistan – noch nicht begonnen.

Container- und Zeltstädte 

Viele der Obdachlosen werden in Containern untergebracht – oft unter katastrophalen hygienischen Bedingungen an den Rändern von Städten. "Die Menschen leben auf sehr engem Raum", sagt Anita Starosta von medico international. Sie hat die Erdbebenregion in den vergangenen Wochen erneut besucht. "Es geht ihnen weiterhin sehr schlecht." Oft gibt es nur unzureichend Wasserversorgung, die Hitze macht das Leben in den Containern noch angespannter. "Das ist keine Bedingung, in der sie das, was sie erlebt haben, verarbeiten können", so Starosta.

Vor allem für Frauen sei die Situation schwierig. Immer wieder hätten sie von Übergriffen in den Notunterkünften berichtet – gegen sich selbst, aber auch gegen Kinder, berichtet Starosta. In manchen Gebieten gibt es nicht einmal diese Unterkünfte. Besonders in Dörfern, in denen Minderheiten leben, sind die Menschen auf sich allein gestellt.

Ungleichheiten verstärkt

"Kurz nach dem Erdbeben gab es sehr schnell die Analyse, dass das Erdbeben regionale und gesellschaftliche Ungleichheiten verstärkt hat", sagt die politische Soziologin Rosa Burç. Sie arbeitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. "Sechs Monate später sehen wir, dass der Umgang mit den Überlebenden weiterhin diese Ungleichheiten reproduziert."

Das Epizentrum der Erdbeben vom 6. Februar war in einem Gebiet, das mehrheitlich von Kurd:innen, Alevit:innen und anderen Minderheiten bewohnt war. Die schwer getroffene Provinz Hatay galt als Schmelztiegel unterschiedlicher religiöser und ethnischer Minderheiten. "Die Region war ohnehin seit Jahrzehnten von einer strukturellen Diskriminierung gegenüber diesen Minderheiten gezeichnet", sagt Starosta. "In so einer Katastrophe tritt das noch mehr zutage. Hilfe ist in so einem Kontext nie neutral oder unpolitisch."

Eine Gruppe, die in Debatten um die Auswirkungen des Bebens oft vergessen wird, sind syrische Geflüchtete. Laut UNHCR leben 3,4 Millionen Syrer:innen mit einem vorübergehenden Schutzstatus in der Türkei. Die Mehrheit dieser Geflüchteten lebt in Istanbul und in den südöstlichen Provinzen Gaziantep, Şanlıurfa, Hatay, Adana und Mersin. Mit Ausnahme Istanbuls und Mersins sind das alles Provinzen, die vom Erdbeben betroffen sind.

"Das Leid dieser Menschen wird im öffentlichen Diskurs gar nicht thematisiert", erklärt Burç. "Sie sind rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, gehören zu den vulnerablen Gruppen in der Türkei und haben keine zivilgesellschaftliche und soziale Infrastruktur, auf die sie sich verlassen können."

"Verlierer der Krise"

Viele von ihnen leben heute noch in Zelten ohne Böden. "Sie sind die absoluten Verlierer der Krise", sagt auch Starosta. Sie müssen sich selbst um Lebensmittel und Wasser kümmern – und gleichzeitig Angst vor rassistischen Angriffen haben. "Die meisten von ihnen haben kaum eine Perspektive", betont Starosta. "Im Wahlkampf wurde noch einmal massiv gegen sie Stimmung gemacht."

Aktuell rechnen nur die wenigsten mit einem raschen Aufbau. "In manchen Gebieten kann es zehn bis 15 Jahre dauern, bis die Städte wieder aufgebaut sind", so Starosta. Dabei ist unklar, ob sich an der vielfach kritisierten Bauweise der Häuser wirklich etwas ändern wird. 

Politische Aufarbeitung fehlt

"Es gibt keine politische Aufarbeitung des Erdbebens", kritisiert Burç. "Dabei ist die Türkei ein Erdbeben-Risikogebiet." Expert:innen rechnen in den kommenden Jahren mit einem großen Beben in der Gegend um Istanbul. Dieses Beben sei keine Frage des "ob", sondern eine Frage des "wie stark" und "wann", betonte der Seismologe Marco Bonhoff zuletzt gegenüber der "Wissensplattform Erde und Umwelt".

Von Gamzes Verwandten versuchen viele das Gebiet – und oft sogar das Land – zu verlassen. Die Gegend sei immer schon viel von Migration geprägt gewesen, sagt sie. "Die letzten, die noch hier sind, wollen jetzt auch noch weg."

ribbon Zusammenfassung
  • Mehr als ein halbes Jahr nach dem verheerenden Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze ist die humanitäre Lage in der Türkei weiterhin angespannt.
  • Besonders Minderheiten und syrische Geflüchtete leben immer noch unter teils katastrophalen Bedingungen.