Russland ist unter Putin zur "Sicherheitsbedrohung" geworden
"Innenpolitisch wurde aus einem Land mit Ansätzen politischer Konkurrenz und Meinungsvielfalt ein autoritäres System, eine auf den Geheimdienst gestützte Präsidialdiktatur, wo Parteien, Justizapparat und Medien gleichgeschaltet sind, und Widerspruch unterdrückt wird", erklärt der Russland-Experte von der Universität Wien gegenüber der APA: Wahlen würden von internationalen Beobachtungsorganisationen, aber auch russischen Kommentatoren als nicht frei, nicht fair und gefälscht eingestuft. Politische Gegner wurden verhaftet, ins Exil gezwungen oder umgebracht.
Die Zahl von Verurteilungen aufgrund politischer Aussagen oder der Teilnahme an Demonstrationen betrage laut Nachforschungen der unabhängigen russischen Gruppe "Projekt" allein in der Amtszeit 2018-24 über 100.000 und übersteige damit die Repression in der Sowjetunion nach Stalin, ergänzt Mueller. Im Freedom House Index wurde Russland von "Teilweise Frei" auf "Unfrei" herabgestuft. "Kritische Medien sind unterdrückt, das Staatsfernsehen transportiert Personenkult, Kriegshetze und Hass auf die Ukraine und Europa."
"Die Festigung der Macht Wladimir Putins innerhalb Russlands erfolgte rasch und konsequent", sagt Mueller. Als entscheidende Schritte dafür sieht er die Fusion der Parteien "Einheit" und "Vaterland Russland" 2001 zur Partei "Einiges Russland", die seither das Parlament kontrolliere und als parlamentarische Basis für den Kreml diene. Auch die Verdrängung großer Wirtschaftsmagnaten aus Medien und Politik sowie die Zerschlagung der Unternehmen von kremlkritischen Oligarchen wie Boris Beresowski oder Michail Chodorkowski zählt der Historiker auf.
Gleichschaltung von Parteien, Medien, Justiz und Gouverneuren
Weitere Schritte im Demokratieabbau sind laut dem Historiker die "Gleichschaltung von Parteien, Medien, Justiz und regionalen Gouverneuren, letzteres durch die zeitweilige Aussetzung der direkten Gouverneurswahl". Die inhaltliche Lenkung der Medienberichterstattung im Sinne des Kremls erwähnt Mueller. "Und schließlich die Einschränkung der Meinungsfreiheit und NGO durch das Gesetz über die Kennzeichnung 'ausländischer Agenten' und andere Gesetze." In der Rangliste der Pressefreiheit belegt Russland den 162. Platz von 180 Ländern. Mindestens 37 Medienschaffende wurden seit dem Amtsantritt von Präsident Putin wegen ihrer Arbeit ermordet, schreibt die Organisation Reporter ohne Grenzen auf ihrer Homepage.
Die Verfassung wurde ebenfalls geändert. Als Putin nach zwei vierjährigen Amtszeiten 2008 nicht mehr antreten durfte, wurde er Ministerpräsident unter seinem Vertrauten Dimitri Medwedew. 2012 kandidierte er wieder, seine Wiederwahl wurde jedoch von Protesten begleitet. Später wurde die Amtszeit auf sechs Jahre verlängert. Und schließlich erlaubte dem heute 72-Jährigen eine weitere Verfassungsänderung, dass er im Fall einer weiteren Wiederwahl bis 2036 regieren könnte.
"Überhitzte, nicht langfristig durchhaltbare Kriegswirtschaft"
Auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen haben sich in Putins Zeit ergeben: "Die Wirtschaftsleistung hat sich verachtfacht". Der Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen habe in den ersten beiden Amtszeiten zur Popularität Putins beigetragen; die Einkommen seien jedoch "extrem ungleich, und die Armutsbekämpfung stecken geblieben". Die Lebenserwartung ist gestiegen - laut Weltbank von 65 Jahren (2000) auf 72 Jahre (2022). Die Bevölkerungszahl schrumpft allerdings weiter. Bei der Diversifizierung der Wirtschaft habe es wenig Fortschritte gegeben, weshalb Russland nach wie vor primär von den Einkünften aus dem Rohstoffexport lebt.
Mueller betont: "Infolge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine wurden für Russland wichtige Wirtschaftsverbindungen zum Westen gekappt, andererseits wurde eine überhitzte, nicht langfristig durchhaltbare Kriegswirtschaft etabliert." Die Abhängigkeit Russlands von China habe sich immens verstärkt. Der Einfluss Russlands in der Welt beruhe auf mehreren Faktoren: "Völkerrechtlich spielt das Vetorecht in der UNO eine Rolle, militärisch der Status als weltgrößte Atomwaffenmacht", sagt Mueller. Dazu kämen Militärinterventionen u.a. durch "Söldner", wirtschaftlicher Einfluss, Soft power und das Ausnützen antiwestlicher Einstellungen.
Kriege als die herausstechendsten Ereignisse
Als herausstechendste historische Ereignisse der Ära Putin bezeichnet Mueller jene kriegerischer Natur: Der zweite Tschetschenien-Krieg, "der mit größter Brutalität auch gegen die lokale Zivilbevölkerung geführt wurde, aber in dessen Zusammenhang auch die russische Bevölkerung zahlreichen Terroranschlägen ausgesetzt war". Ferner zählt Mueller die Aggression gegen die Ukraine 2014 samt völkerrechtswidriger Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel und "schließlich die alles überschattende Invasion 2022 und den seither tobenden Krieg" auf.
Außenpolitisch verfolge Putin "eine aggressive Politik, die von vielen als 'Stärke' wahrgenommen wird". Abgesehen von der Verletzung des Völkerrechts und den zahllosen Opfern seien die materiellen und immateriellen Kosten dafür sehr hoch, wie etwa die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine durch über 140 Staaten, die - bis zum Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump - fast völlige Isolation im Westen und der Verlust essenzieller Handelspartner. "Militärisch hat der Krieg auch zu einer Entzauberung der Streitkräfte Russlands geführt, die lange als zweitbeste weltweit galten, aber phasenweise nur als zweitbeste in der Ukraine bezeichnet wurden." Durch den Krieg und die Fluchtbewegung habe das Land auch viele junge begabte Menschen verloren.
Die Frage, wann Wladimir Putin auf einen antiwestlichen Kurs abgebogen sei, beschäftige Beobachter, seit er in seiner Münchener Rede 2007 die USA und NATO heftig kritisierte, berichtet Mueller. "Die vorangegangenen 'Farbrevolutionen', das heißt Massenproteste in Georgien, der Ukraine und Kirgistan, die friedlich zu Neuwahlen bzw. Machtwechseln führten, waren vom Kreml als Aktionen des Westens dargestellt worden. Das entsprach der Weltsicht, wie sie bereits vom KGB, der weltanschaulichen 'Schule' Wladimir Putins, verbreitet worden war." Es gebe aber auch die Ansicht, dass Putins anfängliche Harmonie mit dem Westen nur oberflächlich gewesen sei.
Revisionistische Außenpolitik
Die Außenpolitik Russlands habe "mittlerweile stark revisionistische und disruptive Züge". Durch verdeckte Einmischungen in die Meinungsbildung im Westen etwa durch Trolle oder Parteienkooperation sollten dort Kreml-freundliche Kräfte gestärkt und an die Macht gebracht werden. "Insbesondere seit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus bietet sich für den Kreml eine historische Gelegenheit, den Westen zu spalten bzw. ins Chaos zu stürzen und damit zu schwächen." Als übergeordnetes Ziel der Außenpolitik erscheine mittlerweile "die Beseitigung oder Schwächung all dessen, was als Bedrohung der eigenen autoritären, antiliberalen Herrschaft im Inneren wahrgenommen wird".
Heute werde in Russland Europa als "Hauptfeind" dargestellt. In zahllosen Fernsehsendungen und Interviews hetzen russische Kommentatoren gegen Europa und bedrohen es verbal mit Atomschlägen, wie dies auch Präsident Putin und seine Umgebung getan haben. "Real nehmen die verdeckten und hybriden Angriffe auf Europa zu - durch Agenten, Saboteure und Schlepper. Gemeinsam mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt das eine zentrale Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit dar", betont Mueller.
Zusammenfassung
- Wladimir Putin ist seit 25 Jahren an der Macht und hat Russland zu einer Sicherheitsbedrohung gemacht.
- Über 100.000 Menschen wurden in Putins Amtszeit wegen politischer Aktivitäten verurteilt, mehr als in der Sowjetunion nach Stalin.
- Russlands Wirtschaft ist trotz einer Verachtfachung der Leistung stark von Rohstoffexporten abhängig.
- Die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt, Russland belegt den 162. Platz von 180 Ländern.
- Putins aggressive Außenpolitik wird als revisionistisch beschrieben und zielt darauf ab, den Westen zu spalten.