Edtstadler: Paris trotz Wahlen für EU-Ratsvorsitz gewappnet
Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit mit Ungarn und Polen wird Frankreich im ersten Halbjahr 2022 durchaus beschäftigen. Gegen beide Länder laufen Strafverfahren unter Artikel 7 des EU-Vertrags, die theoretisch bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnten. Außerdem könnte Brüssel Staaten, die gegen EU-Grundsätze verstoßen, Fördergelder streichen.
"Wir müssen darauf hinweisen, dass die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten ist. Wenn es notwendig ist, auch mit drastischen Mitteln. Stichwort: Einfrieren von EU-Geldern, nicht Auszahlen von EU-Förderungen", sagte Edtstadler. Gleichzeitig forderte sie, mit den betroffenen Ländern im Gespräch zu bleiben.
Auch unter Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) werde der Schwerpunkt Österreichs auf der Migrationspolitik und der EU-Erweiterung in Richtung Westbalkan liegen, betonte die Europaministerin. Derzeit stehen die Aufnahme der Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien an. Edtstadler verwies dabei auf einen Mitte Dezember einstimmig gefassten Beschluss der EU-Staaten, der an "Symbolkraft nicht zu unterschätzen" sei. Die Westbalkan-Staaten bräuchten "ein politisches Signal: Schaut her, wir sind tatsächlich in der Zukunftsplanung der Europäischen Union drinnen."
Das APA-Interview im Wortlaut:
APA: Frau Ministerin, ihr persönlicher EU-Jahresrückblick in drei Sätzen?
Edtstadler: Es war ein sehr herausforderndes Jahr. Es hat gezeigt, wenn wir die Kräfte bündeln, dann können wir große Herausforderungen besser begegnen, als wir das alleine könnten. Wir werden noch lange nicht heraußen sein aus dieser Pandemie.
APA: Wir haben einen neuen Bundeskanzler. Wie wird sich die Europapolitik unter Nehammer von seinem Vorgänger Sebastian Kurz unterschieden?
Edtstadler: Wir haben immer betont, dass wir ein wichtiger und stabiler Partner innerhalb der Europäischen Union sind. Die Lösung der europäischen Migrationspolitik und das Vorantreibern der Westbalkan-Erweiterung sind Schwerpunktthemen Österreichs, denen wir hier noch mehr Vorschub leisten können.
APA: Deutschland hat eine neue Regierung, die Ampel. Wie positioniert sich Österreich ihr gegenüber in der Europapolitik?
Edtstadler: Ich habe erst vor kurzem meine deutsche Kollegin Anna Lührmann kennengelernt. Die Regierung ist seit wenigen Tagen im Amt, da gibt es so einiges, wo wir in die gleiche Richtung wollen. Allerdings gibt es auch sicher einige Themen, die unterschiedlich gesehen werden, aber das wird sich dann im Laufe der Zeit herausstellen.
In einem Punkt habe ich bereits die Unterstützung gespürt, und zwar bei der Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union, wo auch die Deutschen nun möglichen Vertragsänderungen offen gegenüberstehen. Die Zukunftskonferenz läuft viel zu schleppend. Da herrscht Frust auf europäischer Ebene.
APA: Was ist ihrer Meinung nach schiefgelaufen?
Edtstadler: Die Machtspiele unter den Institutionen waren sehr lange vorherrschend. Die Frage, wer sitzt in welchen Gremien, war wichtiger, als mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Dialog zu treten. Herausgekommen sind sehr komplexe Organisationsstrukturen. Es bleibt jetzt nur mehr wenig Zeit, die französische Ratspräsidentschaft will im März einen Zwischenbericht veröffentlichen und im Mai konkrete Ergebnisse präsentieren.
APA: Was erwarten Sie sich von der französischen Ratspräsidentschaft, und ist Paris angesichts der Präsidentschaftswahlen im April überhaupt handlungsfähig?
Edtstadler: Es ist ganz sicher handlungsfähig. Aber es wird natürlich für die Franzosen selbst ein schwieriger Spagat werden: Im Vorfeld der Wahlen auf europäischer Ebene nicht die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen, sondern alle Mitgliedstaaten gleich zu beteiligen. Ich bin davon überzeugt, dass das Frankreich gut hinbekommen wird. Weil es hier auch viele Schwerpunkte Österreichs gibt. Zum Beispiel die Westbalkan-Erweiterung, Partnerschaft mit Afrika, was die Rückübernahmeabkommen betrifft, und im Bereich Migration.
APA: Die nächsten Monate werden wir noch mit der Coronavirus-Pandemie zu kämpfen haben. Wo braucht es hier neben dem COVID-Zertifikat ("Grünen Pass") weitere gemeinsame europaweite Regeln?
Edtstadler: Wir haben leider die Pandemie noch immer nicht bewältigt. Es gibt neue Virus-Varianten und Omikron, das aber noch wenig erforscht ist. Es braucht jetzt dringend einen schnelleren Abgleich der Daten und Erfahrungen unter den Mitgliedstaaten.
Es gibt auch großes Interesse an der österreichischen Impfpflicht. Andere Staaten wollen möglicherweise nachziehen, beispielsweise Deutschland. Es braucht eine Hinwendung zu einem personenbezogenen Corona-Management. Sprich: Wer geimpft ist, wer geschützt ist und das auch mit dem grünen Zertifikat nachweisen kann, soll die maximale Reisefreiheit haben.
APA: Sind sie für eine EU-weite Impfpflicht?
Edtstadler: Nein. Wir haben in der Corona Pandemie immer wieder gesehen, dass es auch wichtig ist, Maßnahmen flexibel zu setzen, wo sie akut erforderlich sind. Daher sind gerade Sicherheit und Gesundheit aus gutem Grund eine nationale Zuständigkeit und die Frage der Impfpflicht natürlich eine nationale Frage.
APA: Die EU-Kommission hat neue Empfehlungen zu Reisebeschränkungen ausgegeben. Glauben Sie, dass sich die EU-Länder daran halten werden, oder wird es erneut zu einem Chaos kommen?
Edtstadler: Wir haben mittlerweile doch fast zwei Jahre Erfahrung im Corona-Management. Ich gebe zu, dass es gerade am Beginn der Krise etwas holprig war, dass wir von europäischer Ebene hier auch Antworten vermisst haben. Wir erinnern uns zurück an geschlossene Grenzen, das Aufhalten von Warenlieferungen, die schon bezahlt wurden. Das war alles eigentlich unglaublich und unvorstellbar, dass das jemals passieren konnte.
Richtig ist, dass manche Dinge aus gutem Grund nationale Zuständigkeit sind und es trotzdem notwendig ist, sich zu koordinieren, den Menschen größtmögliche Reisefreiheit zu geben. Da ist das grüne Zertifikat der Schlüssel.
APA: Das heißt, Sie glauben, dass auch die Länder diesen Empfehlungen nachkommen?
Edtstadler: So war es in der Vergangenheit.
APA: Wie steht Österreich zu den Rechtsstaatlichkeitsproblemen in Ungarn und Polen, sollen die Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds gesperrt werden?
Edtstadler: Es braucht eine ganz klare Kante bei der Rechtsstaatlichkeit. Die ist nicht verhandelbar. Unsere Zusammenarbeit in der Europäischen Union gründet sich auf drei Werte: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Wenn wir hier anfangen, auch nur irgendwo einen Abstrich zuzulassen, dann ist das der Anfang vom Ende. In den letzten Jahren ist leider zu wenig weitergegangen im Bereich Rechtsstaatlichkeit.
Wir müssen darauf hinweisen, dass die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten ist. Wenn es notwendig ist, auch mit drastischen Mitteln. Stichwort: Einfrieren von EU-Geldern, nicht Auszahlen von EU-Förderungen. Auf der anderen Seite bin ich dafür, dass wir mit den Ländern im Gespräch bleiben.
APA: Derzeit laufen gegen beide Länder Artikel-7 Verfahren, die theoretisch bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnten. Warschau droht nun mit der Blockade im EU-Rat bei anderen Themen wie z.B. dem Klimapaket "Fit for 55". Läuft die EU Gefahr, am Ende gelähmt zu werden?
Edtstadler: Sicherlich. Das birgt die Gefahr in sich, dass die Gräben zwischen West und Ost in der Europäischen Union größer werden. Das gilt es mit aller Kraft zu verhindern.
APA: Ein weiteres wichtiges Thema ist die Erweiterung. Wie sehen Sie die Chance, dass die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien in den nächsten sechs Monaten beginnen?
Edtstadler: Gut. Österreich hat in dem Bereich wirklich Bewegung in die Sache gebracht, weil wir beim letzten Rat der Europaministerinnen und -minister einen Beschluss zur Erweiterung einstimmig gefasst haben. Das ist an Symbolkraft nicht zu unterschätzen. Es ist ein Anerkennen, dass diese Staaten viel tun. Die brauchen das politische Signal - gerade für ihre Bürgerinnen und Bürger ganz dringend: Schaut her, wir sind tatsächlich in der Zukunftsplanung der Europäischen Union drinnen.
APA: In Bosnien-Herzegowina, einem potenziellen Beitrittskandidaten, bereiten derzeit die bosnischen Serben die Abspaltung vor. Das Thema ist auf keiner Agenda der EU-Minister zu finden. Sind sie der Meinung, dass die EU dem zu wenig Aufmerksamkeit widmet?
Edtstadler: Wir schauen sehr wohl auf die Situation. Es ist sehr deutlich spürbar, dass hier auch Dinge manches Mal nicht in die richtige Richtung laufen, das es auch immer wieder Rückschritte gibt.
APA: Was wünschen Sie sich für das kommende Europa-Jahr?
Edtstadler: Ich würde mir in erster Linie wünschen, dass wir wirklich den Weg raus aus dieser Pandemie hin zur mehr Normalität finden. Wir werden mit diesem Virus noch länger kämpfen, aber die Impfung schützt vor schweren Verläufen. Damit ist es hoffentlich nicht mehr notwendig, von Lockdown zu Lockdown zu gehen, wenn wir Menschen davon überzeugen.
(Das Gespräch führte Elisabeth Hilgarth/APA)
Zusammenfassung
- Europaministern Karoline Edtstadler (ÖVP) sieht Frankreich trotz seiner Präsidentschaftswahlen im April für den EU-Vorsitz, den Paris für die kommenden sechs Monate übernimmt, gewappnet.
- "Es ist ganz sicher handlungsfähig", so Edtstadler im APA-Interview.
- Aber es sei ein "schwieriger Spagat", vor den Wahlen nicht die eigenen, sondern die Interessen Europas zu vertreten.
- Wenn es notwendig ist, auch mit drastischen Mitteln.