APA/ROLAND SCHLAGER

Doppelt so viele Menschen konnten sich 2022 das Heizen nicht leisten

Eine neue Studie von Caritas und Sozialforschungsinstitut SORA stellt Armutsbetroffene in den Mittelpunkt. Deren Zahl ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, wie auch eine Untersuchung der Statistik Austria zeigt.

Die Umfrage mit Klient:innen der Caritas zeigt, dass sich deren Situation durch die Teuerung verschlechterte. "Kurz waren auch wir sprachlos", so der Caritasdirektor der Erzdiözese Wien Klaus Schwertner, der Reformen forderte.

Anzengruber: "Letzten Monate waren 'beispiellos'"

Für die Studie mit dem Titel "Unterm Radar" wurden 407 Klienten der Caritas - unter ihnen etwa Mindestpensionisten und Alleinerzieherinnen - in Wien und Niederösterreich befragt. Stellvertretend würden sie für 201.000 Menschen in Österreich stehen, die als stark armutsbetroffen gelten - 40.000 Menschen mehr als noch vor einem Jahr. 1,5 Millionen Menschen und damit 17,5 Prozent der Bevölkerung in Österreich sind außerdem armuts- und ausgrenzungsgefährdet.

Die letzten Monate seien "beispiellos" gewesen, sagte auch Doris Anzengruber, Leiterin der Caritas-Sozialberatungsstelle in Wien, bei einer Pressekonferenz. Der Druck auf die Menschen habe zugenommen, der Bedarf an Hilfe übersteige die Möglichkeiten der Caritas. Mit der Studie wolle man armutsbetroffenen Menschen "eine Stimme und ein Gesicht geben", so Schwertner.

Doppelt so viele können Wohnung nicht mehr heizen

Auch die Statistik Austria hat die Lebenssituation in einer Studie erhoben und mit den vergangenen Quartalen verglichen. Hier zeigt sich unter anderem, dass sich die gestiegenen Energiepreise vielen Menschen zusetzen. Die Zahl derjenigen, die sich das Heizen der Wohnung nicht mehr leisten können, verdoppelte sich von 6 Prozent der Bevölkerung im 4. Quartal 2021 auf 12 Prozent im 4. Quartal 2022.

  • Über 70 Prozent der Befragten geben an, unter erheblichen materiellen und sozialen Verlust zu leiden
  • 98 Prozent der befragten Klienten kann sich unerwartete Ausgaben in Höhe von 1.300 Euro nicht mehr leisten können (Gesamtbevölkerung: 29 Prozent)
  • 94 Prozent können sich regelmäßige Freizeitaktivitäten nicht leisten (Gesamtbevölkerung: 25 Prozent)
  • 76 Prozent ein Hauptgericht nur alle zwei Tage (Gesamtbevölkerung: 9 Prozent)
  • 73 Prozent das Warmhalten der Wohnung (Gesamtbevölkerung: 12 Prozent)
  • 70 Prozent das Ersetzen abgetragener Kleidung (Gesamtbevölkerung: 7 Prozent)
  • 92 Prozent stimmten sehr oder ziemlich zu, dass sie ihren Verbrauch bei Strom, Heizen und Treibstoff seit dem Sommer deutlich verringern mussten
  • 85 Prozent gaben an, sich wegen des Kostenanstiegs verschulden zu müssen oder auf finanzielle Hilfe angewiesen zu sein
  • 83 Prozent wussten nicht, wie sie diese Zeit ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen überbrücken sollte

Menschen wollen helfen, aber sind überfordert

Durch die gestiegenen Preise habe sich sowohl die finanzielle Situation als auch die Lebenszufriedenheit sowie die psychische wie körperliche Gesundheit der Klient:innen verschlechtert, berichtete Ogris. Auch die Beziehungen zu Familie und Freunden litten.

Menschen würden gerne helfen, aber seien überfordert, wenn sie mit dieser Hilfe dauerhaft nicht erfolgreich sind. Dann würden sie sich zurückziehen, so der Sozialforscher.

Unterstützungsbedarf bei "zutiefst menschlichen Bedürfnissen"

Unterstützungsbedarf hätten die Befragten bei "zutiefst menschlichen Bedürfnissen", so Ogris - Finanzielles, leistbares Wohnen, körperliche und psychische Gesundheit rangieren dabei auf den ersten Plätzen. Die Menschen würden "mehr Caritas, und mehr als Caritas" brauchen, plädierte der Sozialforscher für "Existenzsicherung statt Einmalzahlungen".

Notwendig sei eine Politik, die die Menschen aus der Hilfsbedürftigkeit heraushebe. Dauerhaft Hilfe zu benötigen, sei eine Verletzung der Menschenwürde, so Ogris. Auch Schwertner und Anzengruber sprachen sich für dauerhafte Hilfen aus. Zu Entscheidungsträger:innen der Politik würde man laut Schwertner allerdings schwer durchdringen.

  • 86 Prozent gaben an, ein Zuschuss zu Wohn- und Energiekosten würde ihre Situation sehr oder ziemlich verbessern
  • Das Gleiche gaben 79 Prozent bei einer möglichen Anhebung von Sozialleistungen, 78 Prozent bei einer Anhebung von zu niedrigen Arbeitseinkommen, um von diesen leben zu können, an
  • 94 Prozent der Klienten und 89 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Aussage, dass Unterstützungen gegen die Teuerung zuerst armutsgefährdeten Haushalten zugutekommen müssen
  • 94 Prozent der Klienten und 83 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für die dauerhafte Erhöhung der Sozialleistungen statt Einmalzahlungen aus
  • 90 Prozent der Klienten und 84 Prozent der Bevölkerung sahen den sozialen Zusammenhalt in Österreich geschwächt, wenn die Politik die Folgen der Teuerung nicht wirksam bekämpft.
  • Nur 22 Prozent der Klienten und 23 Prozent der Bevölkerung sahen Menschen, wie sich selbst im Zuge der Teuerung konkret unterstützt

Sozialhilfe bietet Menschen kein Leben ohne Existenzängste

Die Sozialhilfe könne Menschen derzeit kein Leben ohne Existenzängste bieten. Es brauche bedarfsorientierte Kinderrichtsätze und ein Verbot der Anrechnung anderer Sozialleistungen, wie etwa der Familienbeihilfe, forderte Schwertner. Er kritisierte, dass Arbeitslosengeld und Notstandshilfe im Zuge der Teuerung nicht valorisiert wurden und forderte, dass die Inflationsanpassungen inklusive Familienzuschlägen nachgeholt werden und die "gescheiterte Arbeitsmarktreform wieder auf den Weg gebracht wird."

Auch brauche es nachhaltige Lösungen im Bereich Wohnen und Energie. "Ein möglicher Schritt wäre die Schaffung eines Energiearmutsgesetzes" zur Unterstützung armutsbetroffener Haushalte, sagte der Caritasdirektor.

ribbon Zusammenfassung
  • Eine neue Studie von Caritas und Sozialforschungsinstitut SORA stellt Armutsbetroffene in den Mittelpunkt.
  • Deren Zahl ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, wie auch eine Untersuchung der Statistik Austria zeigt.