Wiener Musikverein ohne Gergiev und mit Fokus auf Diversität
Grundsätzlich zeigte sich Pauly mit der aktuellen Entwicklung bei den Besucherzahlen durchaus zufrieden: "Die Auslastung ist natürlich noch nicht da, wo sie vor Corona war. Aber wir merken in den vergangenen Wochen einen gewissen Aufschwung." Gerade der Aboverkauf entwickle sich nicht schlecht.
Und auch das zweite weltbeherrschende Thema, der Ukraine-Krieg, geht am Musikverein nicht spurlos vorüber. So hat man - schon vor dem russischen Angriff - zwischen 15. und 23. Oktober ein Festival unter dem Motto "Musik im Umbruch" programmiert, bei dem Werke von Komponisten wie Strawinsky, Prokofjew oder Schostakowitsch einen Rückblick in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts werfen - anders als ursprünglich geplant allerdings ohne Valery Gergiev und sein Mariinsky-Orchester. Man habe die Künstler ausgeladen, stellte Pauly klar. Das gelte ebenso für die Petersburger Philharmoniker: "Wir laden derzeit keine Orchester ein, die im wesentlichen staatlich finanziert sind oder von großen russischen Unternehmen unterstützt werden, die auf der Sanktionsliste stehen."
"Meine Haltung ist: Selbstverständlich sind russische Künstlerinnen und Künstler im Musikverein grundsätzlich herzlich willkommen. Aber Künstlerinnen und Künstler, die Zweifel lassen, ob sie den völkerrechtswidrigen Krieg verurteilen oder nicht, mit denen gibt es keine Basis der Zusammenarbeit." Hier sehe er sich im Gleichklang mit den wesentlichen Konzerthäusern Europas. Dabei müsse man aber auch klarstellen, dass hier nur äußerst wenige Musiker wie Gergiev oder der Pianist Denis Matsuev betroffen seien. "Wir würden im Moment jetzt auch Anna Netrebko nicht einladen. Wir hatten derzeit aber keine Pläne mit ihr", so Pauly. Und Teodor Currentzis mit seiner MusicAeterna sei ein spezieller Fall, "wo es viele Grau- und Schattenbereiche gibt, die man differenziert betrachten muss".
Die Ballets Russes aus dem frühen 20. Jahrhundert gibt es zwischen 3. und 14. Juni 2023 im neuen Schwerpunkt "Paris tanzt" zu hören, der das französische Originalklangorchester Les Siècles ans Haus bringt. "Das ist eine echte Forschergemeinschaft", zeigte sich Pauly beeindruckt vom Ansatz des Orchesters. Das Musikvereinsfestival von 25. Februar bis 1. April 2023 widmet sich - ausgehend von dem in der Musiksammlung befindlichen Medizinlöffel Beethovens als Inspirationsquelle - Werken, die sich den Themen Krankheit, Heilung oder Zaubertränken widmen, wie etwa einer Blasensteinoperation bei Marin Marais' "Le tableau de l'opération de la taille". In diesem Rahmen kooperiert der Musikverein auch erstmals mit dem Tanzquartier.
Ansonsten findet sich ein programmatischer Schwerpunkt zum 80. Geburtstag von Daniel Barenboim im Programm, ein neuer Abozyklus von Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern und seiner Staatskapelle Dresden oder auch Porträts für den Pianisten Jewgenij Kissin und die Violinistin Isabel Faust. Und dem zeitgenössischen Komponisten Mark Andre ist ein Fokus gewidmet.
Vieles davon soll künftig nicht alleine im Musikverein erlebbar sein, will man doch in Kooperation mit Unitel den TV- und Streamingmarkt deutlich stärker erschließen. "Entscheidend ist, dass die Eigenveranstaltungen des Musikvereins im medialen Raum deutlich präsenter sein werden als früher", umriss Pauly den dahinterstehenden Gedankengang.
Deutlich präsenter will man auch im Feld der Diversität sein. Das gelte sowohl für die Programmgestaltung, als auch Vermittlung und die internen Strukturen. In Kooperation mit den transkulturellen Experten der Brunnenpassage gibt es etwa in den Neuen Sälen die neue Reihe "Wiener Stimmen", während mit der Caritas beim Projekt Freizeitbuddys zusammengearbeitet wird, bei dem demente Menschen mit ihren Begleitern Konzerte besuchen können. "Das sind oft Menschen, die am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilnehmen können, weil sie besondere Bedürfnisse haben", so Pauly. Und die werde man berücksichtigen.
Das Engagement im Diversitätsbereich sei dabei nicht als Strohfeuer gedacht. "Wir möchten nicht nur Projekte machen, die kurzfristig für Öffentlichkeit sorgen, uns aber nicht weiter beschäftigen", betonte der Musikvereinschef. So laufe am Haus ein extern begleiteter, zweijähriger Prozess, bei dem von der Stellenbesetzungen bis zur Modifikation der Außenkommunikation alles auf den Prüfstand komme.
(S E R V I C E - www.musikverein.at)
Zusammenfassung
- Mit einem prallen Programmkorb aus rund 800 Konzerten in über 70 Abozyklen will der Wiener Musikverein die Saison 2022/23 bestreiten.
- Musikvereinsintendant Stephan Pauly zeigte sich diesbezüglich am Dienstag jedoch krisenerprobt.
- Gerade der Aboverkauf entwickle sich nicht schlecht.
- Und dem zeitgenössischen Komponisten Mark Andre ist ein Fokus gewidmet.
- Deutlich präsenter will man auch im Feld der Diversität sein.