Von wegen "wilde Awaren": Friedliche Eintracht in NÖ
Das Team, das aus Österreich Forschende der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien und der Universität Wien umfasste, stützt seine Erkenntnisse auf vollständige genetische Analysen der beiden, etwa über 150 Jahre genutzten Gräberfelder in den etwa 20 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden niederösterreichischen Ortschaften: Das Gräberfeld im heutigen Mödling umfasste etwa 500 Gräber, jenes in Leobersdorf war mit 150 Gräbern deutlich kleiner.
Biologisch zeigten die zwei Orte zwar kaum verwandte Herkunftsverhältnisse, doch beide Gemeinschaften pflegten eine sehr ähnliche "spät-awarische" Lebensweise. Dies sei ein Zeichen, dass die "kulturelle Integration offenbar trotz großer genetischer Unterschiede funktioniert hat", sagte ÖAW-Historiker Walter Pohl, einer der Hauptautoren, gegenüber der APA. Für das frühe Mittelalter sei es das erste Mal, dass "wir einen solchen Kontrast nachweisen können", so der Koordinator des vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Großprojektes "HistoGenes", das die Lebensverhältnisse zwischen 400 und 900 unserer Zeitrechnung in Ostmitteleuropa untersucht und die Publikation verantwortet.
Dass gewisse (volks-)kulturelle Gepflogenheiten mit einer gemeinsamen genetischen Herkunft zusammenhängen, ist eine verbreitete Annahme. Doch gerade in der frühmittelalterlichen Zeit der Völkerwanderung habe sich, so der Mittelalterforscher, auch gezeigt, dass sich Gruppen immer wieder trennen und mit anderen vereinen: "Wir gehen daher schon länger davon aus, dass die gemeinsame Herkunft und die gemeinsame Kultur nicht immer zusammengehen."
Als Gemeinsamkeiten der Awaren in Mödling und Leobersdorf kann gelten, dass Waffen nur vereinzelt ins Grab gelegt wurden. Zudem sprechen fehlende Kampfverletzungen an den Skeletten sowie fehlende Hinweise auf Mangelerscheinungen dafür, dass es damals "eine der friedlichsten Zeiten in der Geschichte des Wiener Beckens" gewesen sei, meint Pohl. Die Ergebnisse würden also auch mit dem "Klischee der 'wilden' Awaren" aufräumen.
Durch die verbesserte Gen-Analyse hat man Stammbäume über sechs Generationen erstellen können, wie es auch in einer ÖAW-Aussendung heißt. Es zeigte sich, dass fast keine der Mütter Vorfahren vor Ort hatte. "Sie müssen also aus anderen Regionen stammen", so Pohl. Das spreche für ein Inzest-Verbot in beiden Siedlungen.
Doch beim Zuzug der Frauen spielten wohl wieder traditionelle Verbindungen eine Rolle, meint Pohl. Denn in Leobersdorf kamen die Frauen offenbar aus Gemeinschaften, die ebenfalls von den Einwanderern aus Ostasien abstammten, in Mödling hingegen waren sie von europäischer Abstammung.
"Wir haben bis zu einem gewissen Grad auch physiognomische Merkmale abgetestet", so der Forscher zur APA. Allerdings habe sich gezeigt, dass diese "nicht in jedem Fall erklären, auf welcher Basis die Partnerwahl erfolgte". Da die Kultur beider Gruppen sehr ähnlich war, sei es "am wahrscheinlichsten, dass traditionelle Heiratsverbindungen zu bestimmten Gruppen anderswo bestanden".
Dadurch habe sich der Anteil von durchschnittlich 70 Prozent ostasiatischer Abstammung im Awaren-Genom von Leobersdorf über die sechs Generationen kaum verändert. Bei jenen aus Mödling lag der "europäische Genom-Anteil" stetig bei nahezu 100 Prozent, wobei hier Anteile etwa aus Süd-, Nordost- und Mitteleuropa nachgewiesen werden konnten.
Die Verbindungen der Awaren jedenfalls reichten weit: "Die Awaren waren zwar damals vermutlich längst sesshaft, aber mit Pferden gut ausgestattet", so Pohl. Es gab z.B. Hinweise auf gemeinsame Vorfahren zwischen den Awaren aus Leobersdorf sowie aus der ungarischen Tiefebene, aus dem Einzugsgebiet der Theiß, und damit ein paar hundert Kilometer entfernt. "Sehr intensiv waren die Verbindungen zwischen Mödling und einem dritten, ebenfalls untersuchten Gräberfeld aus derselben Zeit, in der Csokorgasse am südlichen Stadtrand von Wien", so Pohl.
Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft hielten die Awaren nicht einfach an ihren traditionellen Sitten fest. Man habe wohl vielmehr im Austausch gestanden, vermuten die Forschenden, um Gemeinsamkeiten wie etwa gleiche Statussymbole, z.B. bronzefarbige Gürtelbeschläge mit genau den gleichen Motiven, zu erklären.
Um 800 endete die Belegung der beiden Gräberfelder. Aus der letzten, also sechsten Generation wurden jedenfalls fast nur mehr Kinder bestattet. Diejenigen, die nicht schon als Kinder gestorben waren, haben Mödling wie auch Leobersdorf verlassen. Warum, ist noch ungeklärt: "Es kann sein, dass die Awaren vor dem damaligen Kriegszug der Franken unter Karl dem Großen, der das Awarenreich unterworfen hat, geflohen sind - oder aber auch, dass sie vertrieben oder gefangen genommen wurden", sagte Pohl. Bald verliert sich auch die genetische Spur der Menschen ostasiatischer Abstammung.
Was damals genau passierte, aber auch genauere Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung der Awaren in Leobersdorf und Mödling über die 150 Jahre hinweg sollen noch in weiterer Folge ermittelt werden. So laufen derzeit Vorbereitungen für ein Projekt, mit dem man "die genaue Chronologie der Bevölkerungsgeschichte anhand eines digitalen Modelles" ans Tageslicht befördern möchte.
(S E R V I C E - Studie: https://www.nature.com/articles/s41586-024-08418-5, begleitendes ÖAW-Videomaterial: https://youtu.be/qS9SGatwIk8)
Zusammenfassung
- Gen-Analysen zweier Gräberfelder in Niederösterreich zeigen, dass die Awaren in Leobersdorf hauptsächlich ostasiatischer Herkunft waren, während die in Mödling europäischer Herkunft waren.
- Trotz ihrer unterschiedlichen Wurzeln lebten die Gruppen friedlich zusammen und pflegten eine ähnliche 'spät-awarische' Lebensweise, was kulturelle Integration trotz genetischer Unterschiede belegt.
- Die Gräberfelder wurden etwa 150 Jahre genutzt, wobei in Mödling etwa 500 Gräber und in Leobersdorf 150 Gräber gefunden wurden.
- Die genetische Analyse über sechs Generationen zeigt, dass fast keine der Mütter Vorfahren vor Ort hatte, was auf ein Inzest-Verbot hinweist.
- Die Studie vermutet, dass die Awaren vor dem Kriegszug der Franken geflohen sein könnten, da sich ihre genetische Spur nach dem Ende der Gräberfelder um 800 verliert.