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Verrückte Welt: Thomas Sautners Roman "Pavillon 44"

Kein Waldviertel, nichts Neues von den Jenischen und keine sanfte Zivilisationskritik: "Pavillon 44" sieht auf den ersten Blick gar nicht nach einem Roman von Thomas Sautner aus. Der 1970 in Gmünd geborene Autor lässt sein neues Buch mitten in Wien spielen, oder besser: oberhalb von Wien, auf der Baumgartner Höhe, im Otto-Wagner-Spital, wo "am Steinhof" psychiatrische Patienten behandelt werden. Mitten in der Normalitätsdiskussion stellt er die Frage: Wie verrückt sind wir?

Natürlich findet sich der alte Witz, wonach sich durch die offene Psychiatrie nichts ändern würde, denn in Wien begegne man ohnedies ständig jeder Menge Verrückter, ebenso in seiner Geschichte wie so manche Binsenweisheit über die Erkennung und Behandlung psychischer Erkrankungen. Aber Sautner, dessen Vor-Ort-Recherche laut Danksagung bereits in den Jahren 2010 bis 2015 stattgefunden hat, gelingen viele schöne, tiefsinnige Sätze über Grenzen zwischen Normal- und Ausnahmezustand und den gesellschaftlichen wie medizinischen Umgang damit. Um dennoch Distanz zu wahren, geht er in Deckung hinter einer Schriftstellerin, die er selbst zu Recherchezwecken in den Pavillon 44 schickt. Um dem Sujet dennoch eine gewisse komödiantische Leichtigkeit zu geben, macht Sautner den Primarius, dem sie sich anschließt, selbst zum buntesten Vogel des originellen Personals seines Buches.

Autorin Aliza Berg und Primar Siegfried Lobell sind also die Protagonisten dieses Eintauchens in die Dickichte menschlicher Seelenlandschaften, durch die vielfältige Wege führen - sinnbildlich beschritten von Lobell auf seinen gedankenreichen Spazierwegen durch das Areal. Denn die Psychiatrie-Koryphäe ist seit Jugendzeiten gut bekannt mit dem Wiener Bürgermeister, und dessen Schutz gewährt ihm Narrenfreiheit im Umgang mit den "Verrückten": Die Routinearbeit, die vor allem im breiten Einsatz von Psychopharmaka besteht, wird von seinem Erzfeind und ehrgeizigen Kollegen Christian Thaler erledigt, während sich Lobell in aller Ruhe, mit viel Empathie und unkonventionellen Methoden den spannendsten Fällen widmen darf, die er in Pavillon 44 versammelt. Hier wird etwa ein Patient, der sich nicht nur Jesus nennt, sondern auch genauso aussieht, ebenso behandelt wie einer, der bei jedem Gespräch aufs Neue ein Rätsel aufgibt: Stellt sich ein "Normaler" (aus welchem Grund auch immer) "verrückt" - oder gelingt es einem "Verrückten" immer wieder, Normalität vorzutäuschen? Wahn und Sinn scheint es in allen Kombinationen zu geben.

Kein Wunder, dass die Autorin bald Angst davor bekommt, ihren Gästestatus zu verlieren und - freiwillig oder nicht - selbst zur Patientin zu werden. Jene plötzlichen Ausnahmezustände, die sie anfallsartig Libido in zuvor nie gekannter Intensität entwickeln lässt, machen ihr Angst vor sich selbst und vor ihrer Umgebung: Öffnen sich durch ihre Begegnungen mit den "Verrückten" plötzlich bisher gut verschlossene Schleusen ihres Inneren, oder sind dafür Medikamente verantwortlich, die ihr heimlich verabreicht werden? Wer könnte aber daran Interesse haben?

Sautner macht aus seinem Buch keinen Krimi, aber er verlässt gegen Mitte des Buches das Areal und sein eingeführtes Personal. Er lässt Jesus und seinen Hawara mit dem 48A ausbüchsen und im Stephansdom eine Aufsehen erregende Predigt halten, lässt die Gattin des Bürgermeisters nicht nur als Physikerin außerordentliche Entdeckungen machen, sondern ihrem Mann ein ungewöhnliches Ultimatum stellen. Primarius Lobell entschließt sich, seine eigenen Psychopharmaka abzusetzen. Dem zuvor so stringenten Roman tut das nicht gut. Er fasert aus, verliert seine Schlüssigkeit und nimmt ein wenig selbst den Charakter einer Traumerzählung an, die fantastisch und geschwätzig zugleich ist. Der zuvor große Wurf wird so nicht nur länger, sondern auch kleiner. Da passt es, dass für sein Ende das (im Postskriptum) Kleingedruckte nicht unwesentlich ist.

(S E R V I C E - Thomas Sautner: "Pavillon 44", Picus Verlag, 458 Seiten, 26 Euro. Offizielle Buchpräsentation am 16.9., 19 Uhr, TheaterArche, Wien 6, Münzwardeingasse 2, Lesungen u.a.: 11.9., 19 Uhr, Thalia W3, Wien 3, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b,; 12.9., 19 Uhr, Bücherei Atzenbrugg/Heiligenreich, Hauptplatz 8; 13.9., 19 Uhr, Palmenhaus Gmünd, Schloßparkgasse 4, www.thomas-sautner.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Thomas Sautners neuer Roman 'Pavillon 44' spielt im Otto-Wagner-Spital in Wien und behandelt die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn.
  • Die Hauptfiguren sind die Autorin Aliza Berg und der Primarius Siegfried Lobell, der durch seine Beziehung zum Wiener Bürgermeister Narrenfreiheit genießt und unkonventionelle Methoden anwendet.
  • Das Buch umfasst 458 Seiten und kostet 26 Euro. Offizielle Buchpräsentation am 16.9., 19 Uhr, TheaterArche, Wien 6.