APA/APA/Landestheater Vorarlberg/Anja Koehler

Standing Ovations für "Gier" am Vorarlberger Landestheater

Der Begriff Mehrspartenbühne hat für das Vorarlberger Landestheater besondere Berechtigung. Denn nicht nur die in vielen Häusern üblichen Überlappungen in den Produktionen haben die herkömmliche Definition als Sprech- und Musiktheatern gesprengt, auch die risikoreiche Hinzunahme der Performance erwies sich bei der Premiere am Donnerstagabend als ausgesprochen gut geglückt. Mit einem herausfordernden Drama, nämlich "Gier" von Sarah Kane.

Es ist dem Zufall geschuldet, dass das 1998 uraufgeführte Werk der im deutschsprachigen Raum damals gehypten britischen Autorin in der Region auch durch eine vor wenigen Monaten präsentierte Produktion am Schauspielhaus Zürich Wiederbeachtung erfuhr. Im Anschluss einer vor rund zwei Jahren aufgeführten Performance von Bella Angora im Bregenzer Ausstellungsraum Magazin 4 kam es zum Engagement der aus Vorarlberg stammenden und überwiegend in Wien tätigen Künstlerin am Vorarlberger Landestheater. Intendantin Stephanie Gräve legte sich bei der Werkwahl auf "Gier" von Sarah Kane (1971-1999) fest.

Dass Bella Angora diesem Werk nahe steht, ist jedem klar, der einige ihrer Performances kennt, für die sie bisher die Texte ausschließlich selbst schuf. Verletzungen, traumatisierende Erlebnisse, die umfangreichen Auswirkungen von schmerzvollen Erfahrungen im Kleinen, Manipulationen in den Beziehungen sowie die Sehnsucht nach Heilung und Liebe sind als spezifische Themen von Sarah Kane auch in früheren Texten der Performancekünstlerin in abstrahierter Form erkennbar.

Wobei zu "Gier" (im englischen Original: "Crave") zu bemerken ist, dass die Obsession oder das Abgründige in den Beziehungen zwischen Menschen hier bei Weitem nicht derart radikal und exzessiv formuliert werden wie in "Zerbombt" oder "Gesäubert". In "Gier", dem Text, der vor dem letzten Werk mit entsprechendem Titel "4.48 Psychose" erschien, sind die schmerzverursachenden Vorkommnisse nicht nur vielfältig, sie sind angedeutet wie die Schuldigen und wie ein Prozess, der zu einer Heilung führen könnte.

Das ausgesprochen Gute an dieser Inszenierung ist, dass Bella Angora daran nicht rührt, dies so belässt, nichts eigens betont und dabei keine Ausdünnung der Themen verursacht, sondern auf die Stärke des Textes oder oft nur vernehmbarer Textfetzen vertraut: "Ich schreibe die Wahrheit und es bringt mich um." Sie lässt sie frei von Pathos, emotional unaufgeladen, aber dennoch nicht monochrom zitieren, ob in den aufgenommenen Einblendungen oder real auf der Bühne. Es braucht viel Performanceerfahrung für diese Ästhetik und ein Ensemble mit Vivienne Causemann, Luzian Hirzel, Nico Raschner und Ines Schiller, das sich auf dieses Betreten von Schauspielerneuland einlässt. Mit entsprechendem Ergebnis, wie der Applaus und die stehenden Ovationen des die große Bühne des Landestheaters umkränzend platzierten Premierenpublikums verdeutlichten.

Als Projektionen von Videokünstlerin Sarah Mistura erscheinen zu Beginn auf einer Box die vier nicht näher definierten und im Text lediglich mit den Buchstaben A, C, M und B versehenen Figuren. Die Texte sind eingeblendet, bevor sich die Box öffnet, aus der Bella Angora die versteinert scheinenden Körper schiebt. Auch wenn sich die Personen dann sprechend aus ihren Kokons lösen, sind Dialogsituationen eliminiert und Interaktionen nicht als Annäherungen, sondern als Rituale wahrnehmbar. Ähnlich wie die Musik von Daniel Pabst und Oliver Stotz, bei der einmal kurz Paul Young hereinweht, dient ein gemeinsamer Tanz mit Seilen der nicht weiter intendierten Assoziation in den Köpfen der Zuschauer und der Gewährleistung des kontinuierlichen Tempos, das sich Bella Angora präzise zurechtgelegt hat.

So funktioniert das Metier, aus dem die Künstlerin kommt und siehe da: bei zwar bildreicher, aber kompromissloser Umsetzung verkommt die Aufführung in keinem Moment zu einem Stück, dem ein Konzept übergestülpt wurde. "Gier" ist am Vorarlberger Landestheater voller kräftiger Reize und dabei eine leise, helle wie dunkle, poetische, aber wunderschön unsentimentale literarische Performance zum existenziellen Thema Liebe und der Sehnsucht danach.

(Von Christa Dietrich/APA)

(S E R V I C E - "Gier" von Sarah Kane, Inszenierung: Bella Angora, weitere Vorstellungen am 10. und 11. November, 19.30 Uhr, Tickets und weitere Informationen unter https://landestheater.org )

ribbon Zusammenfassung
  • Der Begriff Mehrspartenbühne hat für das Vorarlberger Landestheater besondere Berechtigung.
  • Im Anschluss einer vor rund zwei Jahren aufgeführten Performance von Bella Angora im Bregenzer Ausstellungsraum Magazin 4 kam es zum Engagement der aus Vorarlberg stammenden und überwiegend in Wien tätigen Künstlerin am Vorarlberger Landestheater.
  • Intendantin Stephanie Gräve legte sich bei der Werkwahl auf "Gier" von Sarah Kane fest.