Kentridge blickte bei den Wiener Festwochen in die Zukunft
Doch zunächst galt es, dem 68-jährigen Tausendsassa selbst über die Schulter zu blicken. Der 20-minütige Film "The Moment has gone" markierte den Auftakt und zeigte Kentridge bei der Arbeit in seinem Studio, eine weiße Leinwand zunächst mit seinen Utensilien abmessenden, bevor er mit kräftigen Strichen unterschiedlichste Bilder erzeugte. Immer wieder wurde dabei die Perspektive gewechselt, wobei Kentridge dank amüsanter Montage in einen stummen Dialog mit sich selbst treten konnte. Live begleitet wurde das Geschehen von Kyle Shepherd am Klavier und einem vierköpfigen Männerchor.
Nach der Pause (die zunächst für einige verblüffte Reaktionen im Publikum sorgte) wurde der musikalische Faden nahtlos wieder aufgenommen und in die kammeropernhafte Darbietung "Waiting for the Sibyl" übernommen. In einem guten halben Dutzend Szenen wurde der Sibyllen-Mythos weitergedacht. Demzufolge antwortet die Prophetin auf die ihr dargebrachten Fragen, in dem sie auf Blätter schreibt und diese vor ihrer Höhle platziert. Problem dabei nur: Der Wind wirbelt diese Antworten derart durcheinander, dass sich kein Ratsuchender sicher sein kann, welche nun für ihn gedacht ist.
Einen Mangel an Blättern gab es auch bei "Sibyl" nicht. Von den Performern aus Büchern gerissen, in die Luft geworfen oder staunend ans Ohr gedrückt, auf der rückwärtigen Projektionsfläche in unterschiedlichsten Formen und Verformungen abgebildet, gaben sie einen Eindruck von dem, was möglicherweise kommen wird. "Du wirst der Sprache beraubt werden" war da ebenso zu lesen wie "Widerstehe der dritten Tasse Kaffee" oder "Nicht einer unserer Träume hat sich je bewahrheitet". Mittels rhythmischem, vom Klavier begleiteten Gesang in vier Bantu-Sprachen wurde eine weitere Ebene eingezogen, die die zwischen augenzwinkernden Humor und pessimistischer Aussicht changierenden Weissagungen rahmte.
Nicht selten erinnerten die einzelnen, selten länger als fünf Minuten dauernden Szenen dabei an einen Film von Indieliebling Wes Anderson: Während im Hintergrund Kentridges abstrakte Bildsprache Akzente setzte, mussten sich die Darstellerinnen und Darsteller mit repetitiven Handlungen begnügen. Gar slapstickhaft wurde ein Abschnitt mit scheinbar von selbst zusammenklappenden Stühlen, die für etwas Körperkomik sorgte. Einzig die Verkörperung des Orakels, das konsequenterweise wortlos bleiben musste, war als tänzerische Tour de Force angelegt. Dem Hier und Jetzt begegnete man spätestens bei Sätzen zu Krieg oder den allgegenwärtigen Algorithmen. Dennoch blieb dieser "Sibyl"-Abend angenehm zeit- und letztlich ein wenig harmlos. Großer Jubel für alle Beteiligten.
(S E R V I C E - Wiener Festwochen: "Sibyl" von William Kentridge. Konzept, Regie: William Kentridge. Chorkomposition, Mitarbeit Regie: Nhlanhla Mahlangu. Komposition, Musikalische Leitung: Kyle Shepherd. Kostüme: Greta Goiris. Bühne: Sabine Theunissen. Kinematografie: Duško Marović. Mit: Kyle Shepherd, Nhlanhla Mahlangu, Xolisile Bongwana, Thulani Chauke, Teresa Phuti Mojela, Thandazile "Sonia" Radebe, Ayanda Nhlangothi, Zandile Hlatshwayo, Siphiwe Nkabinde, S'busiso Shozi. Halle E im Museumsquartier, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Weitere Vorstellungen am 20.6. um 20.00 Uhr sowie am 21.6. um 16.00 und 20.00 Uhr; www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Zum Abschluss wurde der Blick nach vorne gerichtet: Für die letzte Premiere der diesjährigen Wiener Festwochen holte der südafrikanische Künstler William Kentridge Montagabend ein Orakel auf die Bühne in der Halle E des Museumsquartiers.
- Seine Antikenbearbeitung "Sibyl" war ein kurzweiliges Vergnügen, das sich als Bilder-, Wort- und Musikreigen mit Sprichwörtern, Hoffnungen und Ängsten auseinandersetzte.