Eva Menasse zum "Zustand der Debatte in der Digitalmoderne"
Die Gleichzeitigkeit und scheinbare Gleichwertigkeit von Informationen, die rund um die Uhr und rund um den Globus zur Verfügung stehen (vorausgesetzt man hat ein entsprechendes Device, Strom und Netz), ist in ihren Vor- und Nachteilen schon oft beschrieben worden. Eva Menasse fügt dem einige ihr wichtige Aspekte hinzu. Etwa Entwicklungen rund um die Pandemie, die Beförderung von Impfskepsis oder die Verbreitung von Falschnachrichten. Erstaunlicherweise taucht bei ihr auch ein Begriff auf, dessen jüngster Gebrauch in der Politik auf Irritation gestoßen ist: "Der 'gesunde Menschenverstand' (...) ist im Zeitalter der Digitalmoderne wirkungslos geworden."
Die enorme Beschleunigung der Kommunikation im Zeitalter der Digitalisierung habe wichtige Schutzmechanismen wie Anwendung von Vernunft, Ausschaltung von Affekten, Gewinnung von Abstand ("die Zeit als Airbag") außer Kraft gesetzt, schreibt Menasse, und führt dabei noch nicht einmal jüngste, peinliche Pannen der heimischen Innenpolitik, bei denen Nachrichten an falsche Verteiler gesendet wurden, als Beweise an. Interessant der Verweis auf eine Gegenbewegung: Mehrkammersysteme, Kontrollgremien, Berufungsmöglichkeiten in Politik und Gerichtsbarkeit "verschwenden idealerweise die Zeit nicht, sondern gewinnen sie, um Argumente zu vertiefen, Entscheidungen zu optimieren und Fehlentscheidungen zurücknehmen zu können".
Eva Menasse erinnert an bekannte Tatsachen (etwa die quasi Unlöschbarkeit einmal getätigter Äußerungen im weltweiten digitalen Archiv) und gefährliche Paradoxa: "Die digitale Welt feiert sich für ihre Freiheit, obwohl die digitalen Großkonzerne die mächtigsten Kartelle der Geschichte geschaffen haben; vordergründig bleibt den Nutzern fast alles erlaubt, um sie davon abzulenken, wie sehr sie an deren Strippen hängen." Soziale Medien haben für sie weniger mit einer antiken Agora, auf der Argumente ausgetauscht wurden, sondern mit den Tierhetzen und Gladiatorenspielen von früher zu tun - Triebabfuhr für die Massen und bewusste Ablenkung vom Wesentlichen.
Schließlich kommt die seit langem in Berlin lebende Wienerin, deren erstes Buch dem Prozess gegen Holocaust-Leugner David Irving galt, etwas unvermittelt auf deutsche Antisemitismus-Diskussionen, deren Beeinflussung durch die Regeln der digitalen Debatte nicht ganz deutlich wird. Angesichts der jüngsten, nach dem Hamas-Terrorüberfall verzeichneten Antisemitismus-Welle ist freilich klar: Das Thema ist leider auch in Österreich brisant.
"Alles und nichts sagen" hat Eva Menasse ihren Essay genannt, und man hat am Ende den Verdacht, es handelt sich bei dem soeben erschienenen Buch mehr um eine Bestandsaufnahme dessen, was sich bei der Citoyenne Menasse, die sich ähnlich wie ihre Kollegin Juli Zeh als aktive Beobachterin des Zeitgeschehens versteht, in den vergangenen Jahren an Unmut über Fehlentwicklungen aufgestaut hat, als um das Durchdeklinieren einer schlüssigen These zur Digitalisierung. Das Thema Künstliche Intelligenz spielt erstaunlicherweise keine Rolle.
Die Einser und Nullen sind da, so wie die stinkenden Mülltonnen, ausbrechenden Vulkane und schmelzenden Gletscher, die sie als Beispiele der weiter vorhandenen analogen Welt anführt. Menasse endet mit dem Tasmanischen Teufel, dessen Fortbestand durch einen hoch ansteckenden Gesichtskrebs bedroht ist. Die Menschheit wird wohl aus anderen Gründen aussterben. Gut möglich, dass Einser und Nullen daran mitbeteiligt sein werden.
(S E R V I C E - Eva Menasse: "Alles und nichts sagen", Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 22,70 Euro)
Zusammenfassung
- Erstaunlicherweise taucht bei ihr auch ein Begriff auf, dessen jüngster Gebrauch in der Politik auf Irritation gestoßen ist: "Der 'gesunde Menschenverstand' (…) ist im Zeitalter der Digitalmoderne wirkungslos geworden."
- Gut möglich, dass Einser und Nullen daran mitbeteiligt sein werden.
- (S E R V I C E - Eva Menasse: "Alles und nichts sagen", Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 22,70 Euro)