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Erwin Wagenhofer: "Der Sinn des Lebens ist Entwicklung"

Erwin Wagenhofer ist einer der politischsten Filmemacher Österreichs. Mit Dokumentararbeiten wie "We Feed the World", "Let's Make Money" oder "Alphabet" beleuchtete der heute 63-Jährige die Brandstellen unserer Gesellschaft wie das Bildungs- und Finanzsystem oder unsere Art der Landwirtschaft. Aktuell arbeitet der Regisseur an "Atmosphere" über die Auswirkungen unserer Handlungen auf das Weltklima, der im Herbst in die Kinos kommen soll.

Mit der APA sprach Erwin Wagenhofer über unsere Gesellschaft als eine langsam verdämmernde, die Zensur des Guten und die Macht der Kränkung.

APA: Sie haben wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie mit "But Beautiful" einen Film in die Kinos gebracht, der Beispiele gezeigt hat, wie es die Menschheit schaffen könnte - ein sehr konstruktiv-optimistisches Werk. Hat sich Ihre Weltsicht in den vergangenen fünf Jahren geändert?

Erwin Wagenhofer: Der Sinn des Lebens ist meiner Meinung nach Entwicklung, und daran möchte ich teilhaben, etwas dazu beitragen. Ich würde es deshalb anders formulieren: Nicht meine Sicht auf die Welt hat sich verändert, aber die Welt - und zwar so stark wie in meiner ganzen Lebenszeit zuvor nicht. Es hat sich alles enorm beschleunigt.

APA: Wie sehr spiegelt sich das in Ihrer Arbeit wider?

Wagenhofer: Die Filme bauen in einer gewissen Logik aufeinander auf. Mir wird immer mehr klar, dass nicht ich die Filme mache, sondern die Filme mich machen. Eines ergibt das Nächste, das ist ein organischer Prozess. Wenn wir "organischer" leben würden und nicht so rational, dann würde es uns eventuell viel besser gehen. Wir sollten nicht nur die linke Gehirnhälfte mit ihrer Logik und Rationalität nutzen, sondern auch die rechte der Intuition und der Wahrnehmung. Ich beziehe mich da auf Iain McGilchrist und seine Arbeit.

APA: Warum gelingt uns das als Gesellschaft nicht?

Wagenhofer: Wir leben mit unserem System am Ende einer langen Erhaltungsphase. Heuer wird diese Gesellschaft 80 Jahre alt. Und stellen Sie sich einen 80-Jährigen vor: der hat andere Herausforderungen als ein 20-Jähriger. Vor allem hat er nicht mehr den Willen zur Veränderung.

APA: Belastet Sie dieses langsame Verdämmern einer Kultur?

Wagenhofer: Ich bin in die beste Zeit dieses Systems geboren worden, als es in seinen 20ern war, richtig aufgeblüht ist. Das war die Phase der Innovation, in der Malerei, im Pop, in der Studentenbewegung. Man hat sich gegen die alten Nazistrukturen aufgelehnt. Und jetzt beschleunigt sich alles ganz stark - was typisch ist für die Endzeit.

APA: Hilft dieses Wissen beim Blick voraus?

Wagenhofer: Ich ahnte schon während des Drehs zu "But Beautiful", dass etwas kommen wird, wenn auch nicht, dass es eine Pandemie sein wird. Das ist die intuitive Gehirnhälfte. Das war auch schon 2008 vor der sogenannten Finanzkrise so, als wir "Let's Make Money" gedreht haben. Damals sagten viele, ich sei ein Prophet. Überhaupt nicht! Ich habe nur mit ein paar Leuten geredet, die mit Geld wirklich zu tun hatten. Und die haben das alles vorausgesagt. Es war von Zockern bewusst herbeigeführt und einer der ersten Infarkte des Systems. Von dem haben wir uns nie mehr erholt. Und das werden wir auch nicht mehr. Jetzt muss vieles zusammenbrechen, und dann kommt etwas Neues.

APA: Bringt es als Künstler etwas, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen?

Wagenhofer: Sich dagegen auflehnen, würde nichts bringen. Ich habe deshalb aufgehört, in erster Linie zu kritisieren, wir haben nicht mehr die Zeit von Stéphane Hessel mit "Empört Euch!". Jetzt kommt die Zeit, in der neue Wege beschritten werden sollten. Das hat man nach 1989 verpasst, als man zwar vom Paradigmenwechsel geredet, ihn aber nicht umgesetzt hat. Die Folge ist der Nihilismus der Menschen.

APA: Nihilismus ist keine produktive Haltung ...

Wagenhofer: Die haben wir auch nicht, weil wir die Produktivkraft eingebüßt haben. Das zeigt etwa Peter Sloterdijk in "Der Kontinent ohne Eigenschaften" auf. Wir haben unsere Eigenschaften verspielt, zum Beispiel die Fähigkeit, uns selbst zu hinterfragen. Unsere Kultur geht nun zu Ende, wie einst die der Römer. Das ist wahrscheinlich der Kreislauf des Lebens.

APA: Das Werden und Vergehen als Wesensbestandteil der Menschheit?

Wagenhofer: Es gibt eine interessante Studie zur Frage, weshalb Hochkulturen - von den Römern über die Azteken bis zu den Persern - irgendwann untergegangen sind. Relevant sind dabei im Wesentlichen zwei Effekte, die, wenn beide gleichzeitig eintreffen, unweigerlich zum Untergang führen: Die Ressourcenübernutzung, und die Schere zwischen Arm und Reich geht zu weit auseinander. Und bei uns trifft beides zu.

APA: Handelt Ihr neues Projekt "Atmosphere" genau davon?

Wagenhofer: Das Klima unter den Menschen ist am Boden. Das ist in den vergangenen fünf Jahren so gekommen. Denken Sie an die Coronazeit, in der eine Art Blockwart-Mentalität zurückgekommen ist, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Aber es zeigt, in welcher Krise wir uns befinden mit diesem Kontrollwahn, den ja auch schon Foucault vorausgesagt hat. Als Filmemacher sehe ich gewisse Sachen vielleicht etwas früher. Entsprechend muss ich das einplanen, damit ich am Punkt bin mit einem Film, wenn er herauskommt. Zugleich darf ein Film nie didaktisch werden. Niemand will sich belehren lassen. Es geht eher um Verführung. Was Film/Kino kann, ist Emotion erzeugen - leider auch im Negativen. So werden die Leute zu Angst verführt. Meine Fragestellung war nun, wie man "Mutmachendes" zeigen kann.

APA: Ist das die Rolle des Künstlers in einer sterbenden Kultur?

Wagenhofer: Künstler sollten in ihrer Zeit die richtigen Fragen stellen. Aber das ist jetzt schwer geworden, denn sie haben Nachteile, wenn sie etwas hinterfragen und nicht im Mainstream-Denken verhaftet sind. Darum ducken sich so viele weg, obwohl sie vielleicht ganz anderer Meinung sind. Damit geht aber der kritische Geist verloren. Dann beginnt man, die Dinge ein wenig über die Bande zu spielen, wie einst Kollegen vor 40 Jahren zu Zeiten der Sowjetunion.

APA: Die Förderinstitutionen zensieren Sie in Ihren Augen?

Wagenhofer: Nein, das findet nicht auf Ebene der Fördergeber statt, sondern eher beim Rezipienten. Gewisse Themen und Inhalte werden abgelehnt, wenn sie nicht für politisch korrekt gehalten werden. Wir haben eine enorme Spaltung.

APA: Von der man als kritischer Künstler ja auch profitieren könnte ...

Wagenhofer: Im Gegenteil. Nehmen Sie "But Beautiful", der Ende 2019 ins Kino kam und der erfolgreichste österreichische Film des Jahres wurde. Über keinen Film von mir wurde so wenig berichtet wie über diesen.

APA: Weshalb stößt ein konstruktiver Film auf Widerstand?

Wagenhofer: Er erinnert die Leute an ihr eigenes Versagen. Die Menschen gehen eher in den Nihilismus, bevor sie eigene Fehler zugeben. Und dem Film fehlt das Drama. Das Gute hat kein Drama und wird deshalb eher lächerlich gemacht. Das ist jetzt mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine der Fall. Wer hier eine diplomatische Lösung fordert, ist auf einmal ein Rechter. Das Einzige, das zählt, ist die Forderung, immer mehr Waffen zu liefern. Dabei haben in einem Krieg immer alle Seiten verloren. Aber so etwas darf man nicht mehr sagen!

APA: Aber was ist der Effekt, wenn Sie solch einen Satz sagen? Es kommt halt Widerspruch.

Wagenhofer: Man wird als Putin-Versteher etc. diskreditiert - abgesehen davon, dass das Substantiv zu Verstehen Verständnis wäre. Das ist wahrscheinlich der Punkt: Wir haben kein Verständnis für den anderen oder die andere Meinung. Auch das ist ein Zeichen vom Ende.

APA: Haben wir als Gesellschaft den Kompromiss diskreditiert?

Wagenhofer: Absolut, und dabei ist der das Wichtigste in der Demokratie. Wir haben uns die schwierigste politische Form freiwillig ausgesucht in Europa. Das ist unsere große Errungenschaft. Aber eine Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten - und dafür müssten sie jeden Tag mehrere Zeitungen lesen und unterschiedliche Meinungen einholen, um sich eine eigne Meinung bilden zu können. "Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist", um Hannah Arendt zu zitieren.

APA: Geht es per se darum, gegen den Strom zu schwimmen?

Wagenhofer: Meine Mutter wollte immer, dass ich ein Musterschüler werde - obwohl ich natürlich das genaue Gegenteil davon war. Ich habe dann gesagt: Was stellst du dir vor? Was macht ein Musterschüler, wenn das alte Muster wegbricht? Es geht nicht darum, gegen den Strom zu schwimmen, sondern eher darum, den Fluss des Lebens zu gestalten.

APA: Ein Muster, das Sie bis dato nur einmal geschaffen haben, ist das Genre Spielfilm mit "Black Brown White". Dabei hätten Sie dort doch die Elemente weit mehr unter Kontrolle ...

Wagenhofer: Ich habe ein paar Dinge in der Lade liegen, die ich in den nächsten Jahren realisieren möchte. Ich mache es mir selbst allerdings schwer. Ich habe bei jedem meiner Dokumentarfilme gedacht: "Den einen mache ich noch." Und dann kam der nächste, und so verschleppen sich die Dinge. Zeitgleich haben Kino und Theater, überhaupt die Künste, in den letzten Jahren die gleiche Steigerungslogik wie der Kapitalismus durchgemacht: Immer mehr, immer abgründiger. Eskalieren. Das interessiert mich nicht. Und es kommt bei mir diesbezüglich auch eine gewisse Ängstlichkeit hinzu.

APA: Welche Angst hindert Sie?

Wagenhofer: Wahrscheinlich die vor dem Versagen. In der Kunst ist man so frei wie nirgends sonst. Nur eines muss man überwinden: das eigene Ego. Und das ist eine große Herausforderung.

APA: Das erfolgreich realisierte Projekt "Black Brown White" hat diese Zweifel nicht besänftigt?

Wagenhofer: Dabei ist etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen. Ich habe damals nicht auf ein altes, sehr gutes Treatment zurückgegriffen, sondern die Geschichte verändert. Das hat das Ganze verwässert. "Black Brown White" ist ein netter Film, zu dem ich auch stehe. Aber es ist nicht der Film, den ich wollte. Das hat mich gekränkt. Und die Macht der Kränkung ist riesig. Es war eine Minitraumatisierung, über die ich lange nicht sprechen wollte. Aber ich spüre nun schon seit einigen Jahren, dass es an der Zeit ist.

APA: Zunächst widmen Sie sich aber noch in "Atmosphere" der Klimakrise?

Wagenhofer: Ja, aber eventuell mit einem anderen Zugang, wo es auch um das "Klima" unter den Menschen geht. Evident ist, dass es wärmer wird, also müsste die Herausforderung lauten: cooling the world! Im doppelten Sinn. Erst kühlen wir die Emotionen ein bisschen runter; und dann kühlen wir die Temperaturen runter. Das ginge relativ einfach, in fünf Jahren wären wir da ein großes Stück weiter.

APA: Wie sind wir auf diesen Pfad geraten?

Wagenhofer: Es gab voriges Jahr zum Beispiel eine enorme Kakaokrise in Ghana, weil die Bäume eingehen. Das ist aber keine Folge des Klimawandels, sondern das genaue Gegenteil! Man hat den Kakao, der eine Schattenpflanze ist, in Monokulturen in die pralle Sonne gesetzt, was die Bäume nur mit viel Kunstdünger und Herbiziden eine gewissen Zeit lang aushalten, bevor sie sterben. Aufgrund unserer Art so Landwirtschaft zu treiben, verlieren wir pro Jahr ein Prozent an Bodenfruchtbarkeit - und das seit 70 Jahren. Wir treiben also die zunehmende Verwüstung selbst voran und halten uns auch noch für die Krone der Schöpfung. Indigene, die das anders gesehen haben, haben wir niedergemacht. Das ist unser Problem und das hat mit der Steigerungslogik des Kapitalismus zu tun.

APA: Die Zauberformel lautet Verzicht?

Wagenhofer: Verzicht wird von all denen propagiert, die an diesem System festhalten und eigentlich keinen Verzicht wollen. Dabei verzichten wir jetzt! Auf ruhigere Städte, saubere Luft, bessere Wasserkreisläufe, angenehme Beschattung. Wir leben in einer Welt der Fülle. Und der Kapitalismus ist ein System des Mangels, das einen Bedarf erzeugen muss. Wir müssen uns den Naturgesetzen unterordnen, ob wir wollen oder nicht, sonst werden wir als Menschheit verschwinden. Es wird dank CO2 zu einer Überdüngung des Planeten kommen, das Pflanzenwachstum wird explodieren, und wir haben ein Klima wie vor 300 Millionen Jahren, als so die fossilen Brennstoffe entstanden sind. Das ist aber natürlich die Lösung für den Planeten, nicht die Lösung für die Menschheit.

APA: Weshalb fallen Sie selbst trotz alledem nicht dem Defätismus anheim?

Wagenhofer: Ich bin ein Wunschkind. Das ist die einzige Antwort, die ich geben kann. Meine Eltern wollten wirklich, dass ich zur Welt komme, was bei vielen Kindern nicht der Fall ist.

(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)

ribbon Zusammenfassung
  • Erwin Wagenhofer, 63, ist ein bekannter österreichischer Filmemacher, der sich mit kritischen Themen wie dem Bildungssystem und der Landwirtschaft auseinandersetzt.
  • Sein neuer Film 'Atmosphere', der im Herbst erscheinen soll, untersucht die Auswirkungen menschlicher Handlungen auf das Weltklima.
  • Wagenhofer sieht die Gesellschaft als eine alternde Kultur, die ihre Produktivkraft und Fähigkeit zur Selbsthinterfragung verloren hat.
  • Er kritisiert die Ressourcenübernutzung und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich als zentrale Probleme unserer Zeit.
  • Wagenhofer betont die Bedeutung von Kompromissen in der Demokratie und sieht die Rolle des Künstlers darin, die richtigen Fragen zu stellen.