"Bardo" bei Netflix: Iñárritus Große Befreiung
Der Titel des Films von Iñárritu ist ein kleiner Spoiler. Das Wort "Bardo" stammt aus dem tibetischen Buddhismus. Es bezieht sich auf einen Ort zwischen zwei Daseinszuständen, zwischen Leben und Tod oder Tod und Wiedergeburt, an dem eine Person auf ihr Leben zurückblickt, bevor sie weitergeht, im besten Fall ins Nirwana, in die Große Befreiung. Dieser "Zwischenraum" ist der Schauplatz des neuen Films des mehrfach mit einem Oscar ausgezeichneten Regisseurs. Sein vollständiger Titel: "Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten".
Iñárritus Alter Ego, das durch "Bardo" von einer surrealistischen Szene zur nächsten spaziert, ist Silverio Gama, gespielt von dem wunderbaren spanisch-mexikanischen Schauspieler Daniel Giménez Cacho. Gama ist ein in Mexiko geborener Journalist und Dokumentarfilmer, der einst für ein Jahr nach Los Angeles gezogen war. Wie Iñárritu blieb er schließlich, zog seine Familie groß und baute eine erfolgreiche Karriere auf. Aber dass Gama in einem größeren Teich erfolgreich geworden als dem, den er zurückgelassen hat, nehmen ihm seine ehemaligen Kollegen übel. "Der Erfolg war mein größter Misserfolg!", stöhnt er und stürzt in eine Existenzkrise.
Während er darum kämpft, eine Dankesrede für eine bevorstehende Preisverleihung für sein Lebenswerk jenseits der Grenze zu schreiben, kehrt er in einer Reihe von zunehmend seltsamen, aber großartig choreografierten und von Darius Khondji gedrehten Tableauszenen zu seinen heimischen Wurzeln zurück. Ein Interview in einer mexikanischen Talkshow verschwimmt zu einer höllischen Party, die in eine seltsame historische Nachstellung übergeht, in der Gama auf den rücksichtslosen Eroberer Hernán Cortés trifft, der auf einem Berg toter indigener Mexikaner steht.
All diese Erfahrungen oder Fantasien werden von Gama im Raum des "Bardo" erlebt. Und deshalb wird der Film auch nicht konventionell erzählt. Stattdessen entfaltet er sich wie ein luzider Traum, der zwischen Szenen des normalen Lebens mit Gamas Familie hin zum Surrealen und wieder zurück fließt. Der Einfluss der magischen Realisten und von Filmemachern wie Federico Fellini und Luis Buñuel sind hier sehr spürbar. Und natürlich zitiert Iñárritu auch sich selbst. Er neigt dazu, fantasievolle, fesselnde Filme zu machen, die einen philosophischen Unterbauch haben. Es gibt die Trostlosigkeit von "Amores Perros" und "21 Gramm". Streifzüge durch die Wüste erinnern an Aufnahmen in "The Revenant". Die Theatralik und der filmische Elan in "Bardo" verweisen alle auf "Birdman".
Das ist ein wirklich imposanter Berg an Filmen, auf dem der mexikanische Regisseur da steht, und er hat viele Gedanken und Gefühle, die er anscheinend versucht hat, alle in einen Film zu packen. "Bardo" war drei Stunden lang, als er Anfang September bei den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wurde. Iñárritu hat seitdem 22 Minuten gekürzt, was sicher eine gute Entscheidung war.
Der Regisseur, der jetzt 59 Jahre alt ist und einige Zeit in einer persönlichen Therapie verbracht hat, hat gesagt, der Kern der Filmidee habe ihn getroffen, als er anfing, mit seinem Alter abzurechnen; dieser Punkt im Leben, an dem einem klar wird, dass mehr Jahre hinter einem liegen, als vor einem, und was das in ihm ausgelöst hat. Es macht nicht immer Sinn, aber das Leben tut es auch nicht. Vielleicht will er dem Publikum sagen, dass er glücklich sterben könnte mit den Spuren, die er hinterlassen hat. Recht hätte er.
(S E R V I C E - www.netflix.com/at/title/81249430)
Zusammenfassung
- In seinem ersten in Mexiko angesiedelten Film seit "Amores Perros" (2000) und sieben Jahre nach "The Revenant", blickt der preisgekrönte Regisseur Alejandro González Iñárritu auf sein Werk und Leben zurück.
- "Bardo" ist ein spanischsprachiger, surrealistischer und epischer Streifzug durch den Kopf des Filmemachers, der nicht immer einfach ist, aber wunderbar, wenn man sich darauf einlässt.
- Und deshalb wird der Film auch nicht konventionell erzählt.