Was die Krankheits-Lebensläufe der Österreicher zeigen
Mit der umfassenden Untersuchung konnte man "erstmals den gesamten Gesundheitsverlauf der Menschen in Österreich" abbilden, heißt es am Donnerstag seitens dem CSH. Das Team, dem u.a. auch Alexandra Kautzky-Willer von der Medizinischen Universität (Meduni) Wien sowie die ebenda und am CSH tätigen Elma Dervic, Stefan Thurner oder Peter Klimek angehörten, suchte in den Millionen Daten nach kritischen Punkten in den anonymisierten medizinischen Lebensläufen der Patienten, ab denen der weitere Verlauf eine markante Änderung erfährt.
Der Hintergrund dafür ist die Tatsache, dass weltweit, und vor allem in Industrieländern wie Österreich, die Anzahl der sogenannten "Multimorbiditäten" zunimmt. Darunter versteht man, dass ein und derselbe Patient gleichzeitig unter mehreren, mitunter chronischen Erkrankungen leidet. In unserer im Schnitt massiv alternden Gesellschaft und dem zugleich hoch entwickelten Gesundheitssystem ist dieses Phänomen, das die Lebensqualität mindert und das System belastet, im Zunehmen.
Weiß man viel darüber, wie sich Krankengeschichten von Menschen quasi von der Wiege bis zur Bahre typischerweise entwickeln können "und welche kritischen Momente in deren Leben den weiteren Verlauf maßgeblich prägen", dann habe man "Anhaltspunkte für sehr frühe und personalisierte Präventionsstrategien" zur Hand, so die Studien-Erstautorin Elma Dervic. Aus der Unzahl an zur Verfügung stehenden Daten erstellten die Wissenschafter mehrschichtige Netzwerke, in denen sie jeweils zehn Jahre umfassende Altersgruppen bildeten.
Gefunden wurden so 618 verschiedene Krankheitsverläufe bei Frauen und 642 bei Männern, wobei ein solcher über 70 Jahre reichender Ablauf im Durchschnitt ganze "neun verschiedene Diagnosen" umfasste, "was verdeutlicht, wie häufig Multimorbidität tatsächlich vorkommt", so Dervic. Besonders interessant waren 70 Verläufe, die alle mit sehr ähnlichen Diagnosen in jungen Jahren beginnen, sich dann aber "hinsichtlich Schweregrad und den entsprechend erforderlichen Krankenhausaufenthalten markant unterscheiden". Hier habe man es also mit den gesuchten kritischen Punkten zu tun.
Bei Frauen ist ein markanter Ausgangspunkt zum Beispiel eine Bluthochdruck-Diagnose im Alter zwischen zehn und neunzehn Jahren. In der Folge treten bei einer gefundenen Untergruppe mit dieser ersten Diagnose später Stoffwechselerkrankungen, bei einer zweiten solchen Gruppe hingegen in den Zwanzigern chronische Nierenerkrankung, teils mit erhöhter Sterblichkeitswahrscheinlichkeit schon in recht jungen Jahren auf. Da Bluthochdruck bereits im Kindesalter insgesamt im Zunehmen befindlich ist, seien diese Erkenntnisse "klinisch relevant", so die Forscher.
Bei Männern ist einer der gefundenen problematischen Ausgangspunkte eine organische Schlafstörung im Alter zwischen 20 und 29 Jahren. Danach identifizieren die Forscher auch zwei typische Verläufe: Einer führt in Richtung Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, Fettleibigkeit (Adipositas) und Fettstoffwechselstörungen, der zweite u.a. zu Bewegungsstörungen wie der Parkinson-Krankheit. Hier zeige sich, dass die Studie einerseits Ärzten Hinweise auf mögliche Frühwarnzeichen bei einzelnen Patienten geben und andererseits Überlegungen zur Entwicklung des Gesundheitssystems darauf basierend angestellt werden können.
(S E R V I C E - https://dx.doi.org/10.1038/s41746-024-01015-w)
Zusammenfassung
- Eine Studie des Complexity Science Hub Wien analysierte Krankheitsverläufe anhand von 44 Millionen Krankenhausaufenthalten und identifizierte 1.260 Krankheitskarrieren, die frühe Indikatoren für spätere Gesundheitsprobleme darstellen.
- Die Zunahme von Multimorbidität belastet das Gesundheitssystem und mindert die Lebensqualität, was die Studie durch die Identifizierung von kritischen Gesundheitsmomenten und möglichen Präventionsansätzen adressiert.
- Spezifische Erkrankungen in jungen Jahren wie Bluthochdruck bei Frauen und organische Schlafstörungen bei Männern wurden als kritische Punkte für spätere schwere Gesundheitsverläufe herausgestellt.