Lebenshilfe: OGH-Urteil Meilenstein für Behindertenrechte
Der mit Trisomie 21 geborene Klient hatte den Wunsch geäußert, alleine zum Supermarkt gehen zu dürfen, schilderte Lebenshilfe-Jurist Gregor Riedmann bei einer Pressekonferenz. Monatelanges Verkehrssicherheitstraining folgte, im Rahmen dessen man den Weg zum vom Klienten selbst gewählten Laden einstudierte. Daraufhin meisterte der damals 23-Jährige den Weg auch problemlos - bis er eines Tages im Oktober 2018 statt den Zebrastreifen zu benützen aus unerfindlichen Gründen plötzlich die Fahrbahn querte. Ein Auto erfasste den Mann, der schwer verletzt wurde.
Während es dem Betroffenen mittlerweile wieder gut geht, entspann sich daraus jedoch ein juristischer Streit. Die Inhaberin des Pkw, die als Beifahrerin im Wagen gesessen war, hatte der Lebenshilfe gegenüber den Sachschaden an ihrem Fahrzeug sowie psychische Belastungen geltend gemacht. Der Behindertenorganisation warf sie eine Verletzung der Aufsichtspflicht vor. Nach unterschiedlichen Ansichten der unteren Instanzen stellte der Oberste Gerichtshof in einem Urteil vom September 2023 nun fest, dass eine solche nicht vorgelegen habe, führte Riedmann aus.
Entscheidend sei nun, dass laut OGH für Behinderteneinrichtungen, die volljährige kognitiv beeinträchtigte Menschen betreuen, keine Aufsichtspflicht anzunehmen sei. Außerdem habe das Höchstgericht erstmals direkt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen herangezogen. "Die Selbstbestimmung und die Freiheit von beeinträchtigten Menschen hat Vorrang vor absoluter Sicherheit", freute Riedmann sich über die neue Judikatur. Auch wenn ein Generalisieren schwierig sei, werde diese Rechtssprechung nun auch andere Verfahren beeinflussen - etwa durch die direkte Anwendung der UN-Konvention, so Riedmann auf Nachfrage.
Lebenshilfe-Tirol-Geschäftsführer Georg Willeit sprach von einer "riesigen Erleichterung" nach dem Urteil und dem "Erfolgreichsten, das die Lebenshilfe in den letzten Jahren erreicht hat." Willeit betonte dabei, dass die Lebenshilfe durch ihr Bemühen, den Klienten auf den Weg vorzubereiten, ihre Sorgfaltspflicht gewahrt habe. "Inklusion wiegt schwerer als jemanden in Watte zu packen", fasste Willeit die Folgen für die Rechtssprechung zusammen. "Die Freiheit ist höher einzustufen als die sicherste Lösung", so Riedmann.
Für Behindertenorganisationen wie die Lebenshilfe bedeute das nun konkret, das "Damoklesschwert" etwaiger Haftungsansprüche durch ähnliche Vorfälle nicht andauernd über sich schweben zu haben. Die hohe Gewichtung von Freiheit für Menschen mit Behinderungen werde künftig auch in anderen Bereichen schlagend werden - etwa wenn es um selbstbestimmtes Wohnen oder Sexualität und Partnerschaft gehe, so Willeit.
Ein "positives Signal weit über diesen Fall hinaus" sah auch Philippe Narval, Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich. Gesellschaftlich habe Österreich zuletzt sogar Rückschritte bei der Einbindung von Menschen mit Behinderung gemacht. Auch als Vater eines beeinträchtigten Sohnes freute sich der Funktionär nun über das Zeichen in die entgegengesetzte Richtung - "endlich". "Natürlich wäre es mir lieber, wenn es nicht den Weg über die Gerichte gebraucht hätte", räumte Narval ein.
Zusammenfassung
- Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat in einem Urteil vom September 2023 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung angewandt und die Lebenshilfe von der Anschuldigung einer Aufsichtspflichtverletzung freigesprochen.
- Nach einem Unfall im Oktober 2018, bei dem ein 23-jähriger Mann mit Trisomie 21 von einem Auto angefahren wurde, sieht die Lebenshilfe einen 'Meilenstein' für Behindertenrechte durch das OGH-Urteil.
- Das Urteil stärkt die Selbstbestimmung und Freiheit von Menschen mit Behinderungen und wird zukünftig die Rechtsprechung in ähnlichen Fällen beeinflussen, insbesondere hinsichtlich selbstbestimmten Wohnens oder Partnerschaft.