Wer, warum und was tun? Experten legen Puzzle der Pipeline-Zerstörung
Wie kann so ein Akt durchgeführt werden? Was braucht man dafür?
Sprengen unter Wasser ist kein Hexenwerk, vor allem wenn es - wie in der Ostsee - nicht um große Tiefen geht. Militärtaucher aller Nationen sind darin geübt. So werden Seeminen eines möglichen Gegners in der Regel unter Wasser kontrolliert gesprengt, nicht entschärft. Auch zivile Sprengschulen bieten eine solche Ausbildung an, ebenso Zivilschutzbehörden wie im Falle Deutschlands das Technische Hilfswerk (THW). Prinzipiell ist aber bei einer Pipeline mindestens noch ein zweites Verfahren zur Zerstörung denkbar, sagen Technikexperten. Die Röhre wird mit einem "Molch" gewartet, einem ferngesteuerten Reinigungsroboter, der mit Sprengstoff bestückt werden kann, sofern Täter Zugang zu dem System haben.
Gibt es Spuren zu Tätern?
Die Ostsee gehört zu den am besten überwachten Seegebieten überhaupt - zumal nach der Eskalation der Spannungen mit Russland wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Alle Anrainer beobachten den Schiffs- und Flugverkehr mit Sensoren, und es gibt dabei auf deutscher Seite hoch entwickelte Fähigkeiten. So werden Bewegungen von Fahrzeugen im Wasser verfolgt, indem die akustische Signatur aufgenommen und mit einer Datenbank abgeglichen wird. Die Marine erstellt aus all diesen Informationen ein "Unterwasserlagebild", das allerdings bei der Beobachtung gegnerischer U-Boote auch an Grenzen stößt. Zur Beweislage gehört auch das Schadensbild an der Pipeline. Weil das austretende Gas aber zunächst erheblich Blasen schlägt, ist eine genauere Analyse erst später möglich - Dänemarks Verteidigungsministerium geht von ein bis zwei Wochen aus, bis die Lecks in etwa 80 Metern Tiefe untersucht werden können.
Wer hätte was davon, diesen Anschlag auszuführen?
Wem nutzt es, lautet eine verbreitete Frage bei der Suche nach den Tätern. Allerdings gibt es hier keine einfache Antwort. Wer eine Urheberschaft Russlands annimmt, hält es damit für möglich, dass Moskau die eigene Infrastruktur dauerhaft beschädigt und sich auch selbst die Möglichkeit nimmt, die Gasversorgung als Druckmittel gezielt an- und auszuschalten. Grundsätzlich möglich ist es auch, dass Gegner Russlands und dieser Gasröhren dem Treiben Moskaus ein Ende setzen wollten. Europäische Regierungen halten sich derzeit, kurz nach dem Fall, mit Schuldzuweisungen zurück.
Bei der Suche nach dem möglichen Urheber fragen sich die beteiligten Behörden auch, wer die technischen Fähigkeiten dafür mitbringt. Aus der Koalition in Berlin war zu hören, es sei angesichts der angespannten Lage wichtig, zu möglichen Urhebern keine halbgaren Informationen zu veröffentlichen, sondern auf belastbare Ergebnisse zu warten. Allgemein galt ein "staatlicher Akteur" als wahrscheinlich, falls es sich um Sabotage handelt - wovon EU und Nato ausgehen.
Wer ist in Deutschland für den Schutz der Infrastruktur zuständig?
Die CIA hatte zwar im Juni vor einem möglichen Angriff auf die Gas-Pipelines gewarnt. Sehr konkret und zielgerichtet war diese Warnung aber wohl nicht. Jedenfalls löste sie keine größeren Maßnahmen aus. Dass die Energie-Infrastruktur generell Ziel möglicher Sabotage durch in- und ausländische Akteure sein könnte, haben die Sicherheitsbehörden ohnehin schon länger im Blick. Die Verfassungsschützer von Bund und Ländern haben seit Beginn des russischen Angriffs mehrfach Unternehmen der kritischen Infrastruktur vor möglicher Sabotage und Cyberangriffen gewarnt. Im August hatte Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nach einem Besuch bei der Bundespolizei See gesagt: "Wir müssen auf Attacken auf Gas-Terminals und andere kritische Infrastruktur gerüstet sein."
Welche Schritte zum Schutz sind geplant?
In der Koalition finden manche Innen-Experten, dass das Benennen von Problemen hier nicht ausreicht. Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP formuliert: "Den physischen Schutz kritischer Infrastrukturen bündeln wir in einem KRITIS-Dachgesetz. Die Konzeption "Zivile Verteidigung" richten wir strategisch neu aus." Das Ziel könnte nun sogar wichtiger sein, weil im Falle eines hybriden Angriffs die Gefahr besteht, dass der Geschädigte seinerseits ein Ziel beim Gegner sucht. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erklärte am Mittwoch: "Der mutmaßliche Sabotageakt an den Ostsee-Pipelines führt uns erneut vor Augen, dass wir auf kritische Infrastruktur angewiesen sind - auch unter Wasser. Die Umstände dieses beunruhigenden Ereignisses müssen nun schnell geklärt und die Verantwortlichen identifiziert werden." Sie habe vereinbart, Informationen mit Partnerländern zu teilen. Die Marine wird sich bei der Aufklärung einbringen.
Ist die Sabotage der Pipelines ein kriegerischer Angriff, der einer entsprechenden Antwort bedarf?
Dänemark und Schweden betonen, dass sie nicht angegriffen worden seien. Zu den Vorfällen sei es in internationalen Gewässern in den Ausschließlichen Wirtschaftszonen beider Staaten vor der Ostsee-Insel Bornholm gekommen. Die Frage eines Angriffs auf schwedischem oder dänischem Territorium stellt sich aus Sicht beider Regierungen also nicht. Deutschland ist in diesem Sinne - ungeachtet der langfristigen Folgen - noch weniger betroffen.
Ist eine Reparatur möglich?
Der Betreiber der Pipeline Nord Stream 1 schließt eine Reparatur des beschädigten Doppelstrangs zumindest derzeit nicht aus. Zurzeit sei allerdings grundsätzlich nichts auszuschließen, sagte ein Sprecher der Nord Stream AG am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. Für eine Beurteilung müssten zunächst die Schäden begutachtet werden. Bisher gebe es keine Bilder. Erst nach einer Begutachtung könne man ein etwaiges Vorgehen festlegen. Es gebe Erfahrungen und Anbieter für entsprechende Arbeiten. Zu möglichen Kosten und wer diese übernehme, wollte der Sprecher wegen der fehlenden Informationen über die Schäden keine Angaben machen.
Zunächst müssten unbemannte Unterwasserfahrzeugen, die von Schiffen aus gesteuert werden, die Schäden erkunden. Man wolle die Schäden so schnell wie möglich inspizieren, das setze aber voraus, dass die Behörden die verhängten Sperrzonen aufhöben. Für die Nord Stream 2 AG dürften etwaige Erkundungen oder gar Reparaturen auch deshalb schwierig werden, weil das Unternehmen seit Anfang des Jahres unter US-Sanktionen steht, die Geschäfte mit dem Unternehmen mit Sitz in der Schweiz unmöglich machen.
Wie viel Gas war zum Zeitpunkt der Beschädigung in den Leitungen?
Zum Zeitpunkt des plötzlichen Druckabfalls in einer der beiden Nord-Stream-2-Leitungen und beiden Nord-Stream-1-Leitungen befanden sich in den Röhren insgesamt Hunderte Millionen Kubikmeter Gas. Allein in der betroffenen Röhre von Nord Stream 2 waren es laut Betreiber über 170 Millionen Kubikmeter. Nord Stream 1 und 2 sind jeweils Doppelstränge mit ähnlicher Kapazität.
Tritt das komplette Gas der betroffenen Leitungen nun aus?
Ein Teil des Gases dürfte zunächst in den Leitungen bleiben, sagte Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek. Das sei der Fall, wenn Wasser- und Gasdruck ein gewisses Gleichgewicht erreichten. Zudem spiele das Gefälle, über das die Leitungen verlegt seien, eine Rolle. Gas noch an den Anlandestation abzulassen, sei seines Wissens nach nicht möglich, weil das Gas schneller aus dem Leck austrete. Man könne Gas auch nicht schlagartig ablassen, weil durch die plötzliche Reduzierung des Drucks Kälte entstehe, die technische Anlagen beschädigen könnte. "Das ist alles nicht so trivial."
Zusammenfassung
- Die Explosionen an den Ostsee-Gasröhren Nord Stream 1 und 2 können ein neues, gefährliches Kapitel in der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen aufschlagen.
- Hinweise auf eine gezielte Zerstörung werden dichter - ein zeitgleiches Unglück an mehreren Stellen erscheint unwahrscheinlich.
- Fachleute in Geheimdiensten, Militär und Industrie tragen ihre Erkenntnisse nun zu einem Bild zusammen.