Ukraine erhebt erste Anklagen wegen Deportation von Waisen
Die Kinder sollen nach Moskau sowie auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim gebracht worden sein. Das geht aus Dokumenten der Staatsanwaltschaft hervor, die die Nachrichtenagentur Reuters einsehen konnte. Die Anklage ist das Ergebnis umfassender Ermittlungen der ukrainischen Behörden in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Dessen Chefankläger hatte das Kinderheim in Cherson besucht.
Es seien die ersten Verdächtigen, die von der Ukraine angeklagt würden, teilten Justizvertreter Reuters mit. Sollte der Vorwurf bewiesen werden, wäre dies ein Verstoß gegen die Genfer Konvention von 1949 und könnte nach ukrainischem Recht mit einer Haftstrafe von bis zu zwölf Jahren geahndet werden. Wo sich die Kinder, die damals zum Teil erst ein Jahr alt waren, aufhalten, ist der Staatsanwaltschaft zufolge ungewiss.
"48 Kinder, die sich im Kinderheim der Region Cherson befanden, wurden gewaltsam verschleppt, deportiert", sagte Julija Usenko, die Leiterin der Abteilung für den Schutz der Interessen von Kindern in der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, der Nachrichtenagentur Reuters. "Es war kein einmaliges Ereignis." Die Kinder könnten illegal von russischen Bürgern adoptiert oder in russische Einrichtungen gebracht worden sein, sagte Usenko. "Wir wissen nicht, wie es diesen Kindern geht, unter welchen Bedingungen sie gehalten werden oder was ihr Schicksal ist."
In den öffentlichen Dokumenten sind die Namen der Verdächtigen geschwärzt. Die Staatsanwaltschaft nimmt an, dass sie sich entweder auf der Krim oder in Russland aufhalten. Der Großteil der Waisenkinder wurde laut Anklageschrift am 21. Oktober 2022 unter der Aufsicht des russischen Hauptverdächtigen entführt. Sie seien in weiße Fahrzeuge des russischen Gesundheitsministeriums gebracht und auf die Krim transportiert worden. Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat ein Video geteilt, das angeblich zeigt, wie einer der Verdächtigen dabei hilft, die Kinder in einen Bus zu setzen, der mit dem prorussischen Symbol "Z" gekennzeichnet ist.
Die Ukraine wirft Russland vor, insgesamt mehr als 19.000 Kinder nach Russland oder in von russischen Truppen besetztes Gebiet verschleppt zu haben. Das Präsidialamt in Moskau wies am Mittwoch abermals den Vorwurf zurück, es seien in der Ukraine Kinderrechte verletzt worden. Vielmehr hätten russische Streitkräfte Kinder aus den Konfliktgebieten gerettet. Ähnlich äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow am Freitag. Er warf dem Westen zudem Heuchelei vor, weil er Russland wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine angegriffen, zugleich aber "rassistische Äußerungen" der ukrainischen Führung über die Tötung von Russen ignoriert habe.
Im März hatte der IStGH, das ständige internationale Kriegsverbrechertribunal, Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Beauftragte der russischen Regierung für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, erlassen. Beide werden des Kriegsverbrechens beschuldigt, Hunderte Kinder aus Waisenhäusern und Kinderheimen in besetzten Gebieten der Ukraine verschleppt zu haben.
Usenko sagte, die jetzt erhobene Anklage sei erst der Anfang. "Wir wollen alle Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen, alle Menschen, die schreckliche internationale Verbrechen an unseren ukrainischen Kindern begangen haben."
Zusammenfassung
- Sie richten sich gegen einen russischen Politiker und zwei mutmaßliche ukrainische Kollaborateure.
- Sie sollen im September und Oktober 48 Waisen aus einem Kinderheim in der damals russisch besetzten ukrainischen Stadt Cherson verschleppt haben.
- Die Ukraine wirft Russland vor, insgesamt mehr als 19.000 Kinder nach Russland oder in von russischen Truppen besetztes Gebiet verschleppt zu haben.