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Novemberpogrome 1938: "Es war eine Katastrophe"

Die Novemberpogrome 1938, in denen brutale Ausschreitungen gegenüber Jüd:innen von den Nazis durchgeführt wurden, jähren sich am Donnerstag zum 85. Mal. PULS 24 hat mit einem Zeitzeugen und Experten gesprochen, um die furchtbaren Ereignisse der Nacht zu schildern. Das Gedenken an das Pogrom sei besonders in Anbetracht der gestiegenen Anzahl antisemitischer Vorfälle wichtig.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen die Nationalsozialisten in einem bis damals nie gesehenen Ausmaß gegen die jüdische Bevölkerung vor. 

Als Vorwand dafür nahmen sie ein angebliches Attentat: Der polnische Jude Herschel Grynszpan hatte am 7. November den deutschen Diplomaten in Paris, Ernst vom Rath, erschossen. Der 17-Jährige hatte kurz zuvor erfahren, dass seine Familie gemeinsam mit Tausenden anderen polnischen Juden ins Niemandsland zwischen Polen und Deutschland zwangsdeportiert worden war.

"Es hat die Verzweiflung die Tat produziert und sicherlich nicht die überlegte Handlung", so Andreas Kranebitter, geschäftsführender wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DOW). 

"Reichskristallnacht" als verherrlichender Begriff

Es folgten brutale Ausschreitungen, Jüd:innen wurden willkürlich verhaftet, Synagogen angezündet - wobei der Feuerwehr angeordnet wurde, die Brände nicht zu löschen - und Tausende schließlich deportiert.

Bekannt sind die Gräueltaten auch als "Reichskristallnacht", dabei handle es sich aber um einen "Term aus der Nazi-Welt", betont Philipp Rohrbach, Workshop-Leiter am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien. Mit diesem Begriff hätte man die vielen zerbrochenen Fensterscheiben positiv belegen wollen und "das Glänzen hervorgehoben".

Ich hab gesehen, wie man die Leute auf den Straßen zusammenschlägt, nicht nur beschmiert und anrempelt (...), nur weil sie den jüdischen Glauben hatten oder als Juden erkannt wurden.

Erich Richard Finsches, Zeitzeuge

Heutzutage spricht man stattdessen von einem Pogrom, also einer Ausschreitung gegen nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten.

Befehl "von oben in Auftrag gegeben"

"Es war eine Katastrophe", schildert der 96-jährige Erich Richard Finsches. Er war zur Zeit des Pogroms zehn Jahre alt. "Ich hab gesehen, wie man die Leute auf den Straßen zusammenschlägt, nicht nur beschmiert und anrempelt (...), nur weil sie den jüdischen Glauben hatten oder als Juden erkannt wurden."

Der Befehl dazu war "von oben in Auftrag gegeben worden", so Rohrbach. Es ging darum, Juden "aus dem Wirtschaftsleben auszuschließen und Terror und Schrecken zu verbreiten".

Die brutalen Ausschreitungen in der Nacht seien eine "Verschärfung der Zustände" gewesen. Tausende Jüd:innen wurden in sogenannte "Notarreste" zum Beispiel in der Karajangasse im 20. Bezirk oder der Kenyongasse im 7. Bezirk gebracht.

"Von der Staatsmacht als Freiwild verkauft"

In diesen extra eingerichteten Behelfsgefängnissen wurden sie festgehalten und gequält. "Es haben auch zahlreiche Juden Selbstmord begangen in diesen Notarresten", verdeutlicht Rohrbach die katastrophalen Zustände.

Wie viele Jüd:innen damals umkamen, sei schwierig festzumachen, schildert Kranebitter gegenüber PULS 24. "Dabei ist nicht allein die Anzahl der Toten relevant." Stattdessen gehe es um die unglaubliche Gewalt und die Tatsache, dass sich "die Leute ungeschützt von der Staatsmacht als Freiwild verkauft" gesehen haben, betont er.

Ziel sei es damals noch gewesen, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, erläutert Rohrbach. Konnten die Gefangenen nicht beweisen, dass sie sofort vorhatten, das Land zu verlassen, wurden sie vor allem in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau deportiert. In späterer Folge wurden dort viele von ihnen ermordet.

Misshandlung und Raub

In den Notarresten zeigten sich auch die teils sehr plötzlich gekippten Machtverhältnisse besonders drastisch. Ein Zeitzeuge habe etwa erzählt, dass er einen der Polizisten, der in dieser Nacht als Wärter des Gefängnisses fungierte, noch aus der Zeit vor 1938 gekannt habe. Als Wärter habe er den Gefangenen ungeachtet dessen nun aber misshandelt, schildert Rohrbach.

Auch in der Nachbarschaft sei es zu "persönlichen Bereicherungen" gekommen, denn besonders Nachbar:innen hätten oftmals besonders gut darüber Bescheid gewusst, was es im jüdischen Nachbarhaus zu erbeuten gab.

Aktuelle Parallelen zu 1938?

Der Zweck damals sei gewesen, "Unsicherheit zu schaffen und gewaltsame Übergriffe auf die Jüdinnen und Juden Österreichs zu orchestrieren", fasst Kranebitter zusammen. Seit dem Überfall der Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober mit rund 1.400 Toten würden Jüd:innen auch in Österreich erneut Unsicherheit spüren. 

Die antisemitischen Vorfälle stiegen seitdem massiv an, erst kürzlich wurde ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs ausgeübt. Rohrbach sieht das als "klares Indiz dafür, dass wieder versucht wird, Druck auf eine Minderheit auszuüben". Auch im Jahr 1938 sei die Zeremonienhalle des Zentralfriedhofs geschändet worden.

"Gedenken soll Sicherheit schaffen"

Genau deswegen sei die Erinnerung an das Novemberpogrom "das stärkste Symbol, um dieser Unsicherheit zu begegnen", betont Kranebitter. "Das Gedenken soll Sicherheit schaffen und Solidarität."

Die jüdische Jugend Wien lädt deswegen am 9. November um 19 Uhr am Heldenplatz dazu ein, gemeinsam ein Licht der Hoffnung zu entfachen. 

ribbon Zusammenfassung
  • Die Novemberpogrome 1938, in denen brutale Ausschreitungen gegenüber Jüd:innen von den Nazis durchgeführt wurden, jähren sich am Donnerstag zum 85. Mal.
  • PULS 24 hat mit einem Zeitzeugen und Experten gesprochen, um die furchtbaren Ereignisse der Nacht zu schildern.
  • "Es war eine Katastrophe", schildert der 96-jährige Erich Richard Finsches. Er war zur Zeit des Pogroms zehn Jahre alt.
  • Es ging darum, Juden "aus dem Wirtschaftsleben auszuschließen und Terror und Schrecken zu verbreiten".
  • Das Gedenken an das Pogrom sei besonders in Anbetracht der gestiegenen Anzahl antisemitischer Vorfälle wichtig.