Renate Welsh schrieb ihrer "Johanna" eine Fortsetzung
"Sie hat bewiesen, dass ein Mensch mehr sein kann als die Summe dessen, was ihm widerfahren ist", heißt es im Vorwort über das Vorbild der Johanna, ihre Nachbarin in jenem Dorf, in dem Welshs Vater 1965 ein "völlig verwahrlostes altes Bauernhaus" kaufte. "Sie war klug, großzügig, lebendig, stur, unbequem, neugierig, offen." Das Vorwort ist eine wahre Liebeserklärung an die Frau, die ihr anfangs verwehrt hatte, über sie zu schreiben. Zu groß seien die Herkunftsunterschiede, als dass es möglich sein könne, zu "verstehen, wie es einer geht, die da herkommt, wo ich herkomme". Nämlich von ganz unten, aus einer Rechtlosigkeit, in der ein uneheliches Kind einer Dienstmagd bei Bauern arbeiten musste, ohne einen Groschen dafür zu bekommen. Welsh hat das in "Johanna" genau und einfühlsam beschrieben, denn schließlich bekam sie doch die Erlaubnis dazu. Lesen wollte die Nachbarin das fertige Buch aber lange nicht: "Ich hab es leben müssen, was soll ich es lesen auch noch!"
Als ihr Mann gestorben war, las die Nachbarin "Johanna" schließlich doch. "Ihr einziger Kommentar war: 'Ich weiß nur nicht, wieso du auch das geschrieben hast, was ich dir nicht erzählt habe.' Ein paar Jahre später sagte sie dann: 'Wir müssen einen zweiten Band schreiben, der hört ja auf, noch bevor meine Älteste auf die Welt gekommen ist.'" Acht Kinder hat sie bekommen, erfährt man in "Die alte Johanna", in dem zweiten Band, den das Romanvorbild nicht mehr lesen kann. Die Nachbarin ist vor zehn Jahren gestorben.
Es war ein langsames Loslassen von Verpflichtungen und Verantwortungen, gezeichnet vom Nachlassen der körperlichen Fähigkeiten, vom Verlust jener Energie, die Johanna immer über sich hinauswachsen ließ. "Die alte Johanna" widmet dem Altern, dem Gefühl des langsamen Verschwindens aus der Welt, mindestens ebenso breiten Raum wie dem Rückblick. Welsh verlässt in der Fortsetzung die chronologische Erzählweise, sondern erzählt ganz aus der Gegenwart, in der die Frau, die sich ihr Leben lang abgerackert hat, nun von einer ihrer Töchter versorgt wird und dabei auch körperliche Nähe zulässt. Die zeitliche Weiterführung der in "Johanna" erzählten Lebensgeschichte muss man selbst in die richtige Ordnung bringen, steht aber auch nicht im Mittelpunkt. Der Ausspruch, der sie als Kind tief getroffen hatte, "Das wäre ja noch schöner, wenn ledige Kinder schon was wollen dürften", zieht sich als Leitmotiv durch das neue Buch, in dem man immer wieder blitzlichtartig mit Momenten des Vorgängers konfrontiert wird.
Ein Resümee steht aber über allem: Trotz der widrigsten Voraussetzungen ist es ein gelungenes Leben geworden. Die alte Johanna wird - trotz ihrer ruppigen Seiten, die auch nicht verschwiegen werden - von ihren Nachkommen geliebt und geschätzt, vom ganzen Dorf geachtet und respektiert. Für die Enkerl ist sie "die beste Oma auf der kanzen Welt". Sie stirbt im Schlaf, "sie schien zu lächeln, ihr Gesicht war völlig entspannt".
Der Czernin Verlag hat auch das Vorgänger-Buch in gleicher, schöner Aufmachung neu aufgelegt. Es lohnt sich, auch ihn (noch einmal?) zu lesen. Egal, ob man 10 oder 80 ist.
(S E R V I C E - Renate Welsh: "Johanna", Czernin Verlag, 256 Seiten, 23 Euro, ISBN: 978-3-7076-0722-2; Renate Welsh: Die alte Johanna", Czernin Verlag, 192 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-7076-0724-6)
Zusammenfassung
- Die harte Lebensrealität eines unehelich geborenen Kindes in einem österreichisches Dorf der 1930er-Jahre schilderte Renate Welsh in ihrem 1979 erschienenen Roman "Johanna".
- Nun hat die 83-jährige Autorin, die sich u.a. mit ihrem "Vamperl" in die heimische Literaturgeschichte der Nachkriegszeit eingeschrieben hat, eine Fortsetzung geschrieben.
- Als ihr Mann gestorben war, las die Nachbarin "Johanna" schließlich doch.