Jewish-Orchestra-Chef kritisiert Zukunftsmodell der Klassik
APA: Sie spielen am Samstag Philippe Schoellers Musik zu "Das Alte Gesetz", die er speziell für Ihr Jewish Chamber Orchestra geschrieben hat. Ist Filmbegleitung für einen Dirigent ein sehr enges Korsett?
Daniel Grossmann: Das Stück lässt einem sehr viele Freiheiten. Filmmusik ist eigentlich Stress, aber Schoeller schreibt sehr viele Fermaten, durch die man gut ausgleichen kann. Er selbst sagt auch immer, ich solle mich überhaupt nicht stressen. Es sei nicht entscheidend, wo ich gerade bin. Ich liebe diese Musik unglaublich. Schoellers Idee ist, dass er das Innenleben der Protagonisten mit der Musik beschreibt - es ist keine Stummfilmmusik, die auf die Bilder reagiert, sondern davon unabhängig.
APA: Eine Parallele zum zweiten Abend ist, dass auch Feldman/Beckett eine Kombination verschiedener Genres und keine absolute Musik sind. Sind Sie ein so uneitler Musiker?
Grossmann: Mir geht es überhaupt nicht um Eitelkeit, sondern um Inhalte. Das Problem der zeitgenössischen Musik ist, dass sie sich nicht traut, schöne Klänge zu produzieren. Zeitgenössische Musik ist oft schwierig zu verstehen und anzuhören. Feldman und Schoeller stellen aber einen fast meditativen Schwebezustand her, was eine zeitlose Stärke besitzt.
APA: Sie haben das Jewish Chamber Orchestra bereits 2005 - noch unter dem Namen Orchester Jakobsplatz München - gegründet. Weshalb wollten sie bereits als 27-Jähriger ein eigenes Ensemble?
Grossmann: Mich hat nie interessiert, Beethoven oder Mahler zum Hunderttausendsten Mal zu dirigieren. Ich wollte immer schon abseitiges Repertoire und spartenübergreifende Formate entdecken - und das Thema Judentum. Es hat mich immer gestört, dass jüdisches Leben in Deutschland sich im Hinterhof abspielt und wenig in die Öffentlichkeit getragen wird.
APA: Weshalb kam es 2018 zur Umbenennung?
Grossmann: Orchester Jakobsplatz München hießen wir nach dem Neubau des jüdischen Gemeindezentrums. Ich hatte aber das Gefühl, wir verstecken uns hier hinter einer Chiffre. Mit dem Begriff "Jewish" ist das anders.
APA: Zugleich sind die Ensemblemitglieder nicht alles Juden?
Grossmann: Nein. Wichtig ist mir einfach die Teamfähigkeit, und es bedarf eines Interesses an dem, was wir tun. Sonst funktioniert unser demokratischer Gedanke nicht.
APA: Haben sich die Reaktionen auf Ihr Orchester in den 17 Jahren des Bestehens verändert? Ist Antisemitismus ein Thema?
Grossmann: Eigentlich nicht. Mir ist bewusst, dass wir uns in einer Blase der Intellektualität befinden. Aber wir erleben überhaupt keine negativen Reaktionen. Ich bilde mir aber auch ein, dass es damit zu tun hat, dass wir mit Unbefangenheit nach außen gehen.
APA: Ganz allgemein darbt die Klassikbranche in der postcoronalen Zeit. Sehen Sie das als Übergangsphase oder haben Sie grundsätzlich Angst um Ihr Metier?
Grossmann: Ich habe große Sorge, dass wir in eine ganz schwierige Situation kommen. Durch die Lockdowns wurden Kulturtechniken und Gewohnheiten verlernt. Viele haben gemerkt, dass es gute Seiten hat, mehr zu Hause zu sein. Und nun kommt Inflationsangst dazu. Ich glaube aber, dass die Klassikbranche hier eine Chance hat, da ich die momentane Lage kritisch sehe, mit immer neuen Stars dieselben Stücke abzuspielen. Das ist kein Zukunftsmodell. Wir müssen ernsthaft überlegen, woher der Nachwuchs kommt, und ich glaube, dass die Klassikbranche hier bisher nur an der Oberfläche gekratzt hat.
(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - https://konzerthaus.at/konzert/eventid/59855 ; https://konzerthaus.at/konzert/eventid/59859)
Zusammenfassung
- Am Wochenende kommt das Münchener Jewish Chamber Orchestra ins Wiener Konzerthaus.
- Zuvor sprach der 1978 geborene Ensemblechef Daniel Grossmann mit der APA über das Problem zeitgenössischer Musik, das fehlende Zukunftsmodell der Klassik und das Verstecken hinter Chiffren.