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Adele öffnet auf "30" ihr Herz

Sie ist eine jener Künstlerinnen, bei der die Welt den Atem anhält: Wenn Sängerin Adele nach sechs Jahren Wartezeit neues Material veröffentlicht, steht der Popzirkus Kopf und schießen die Streamingzahlen durch die Decke. So geschehen bei der vor wenigen Wochen veröffentlichten Single "Easy On Me", und auch "30" wird diesem Beispiel folgen. Benannt erneut nach dem Lebensjahr, in dem sie die Arbeit daran begonnen hat, ist das Album solide und äußerst persönlich geworden.

Eine Kurzfassung ist eigentlich einfach: Die zwölf Stücke von "30" sind gut gemachter Pop mit vielen balladesken Momenten und nur wenigen Uptempo-Abschnitten, mit dem Adele Adkins in erster Linie die Scheidung von ihrem langjährigen Partner Simon Konecki verarbeitet. Es geht um Liebe und Enttäuschung, um Selbstbewusstsein und den Druck einer weltweiten Öffentlichkeit - und nicht zuletzt um die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn. Angelo James ist mittlerweile neun Jahre alt und saß auch im Publikum, als seine Mutter kürzlich bei Amerikas bekanntester TV-Talkerin Oprah Winfrey aus ihrem Leben erzählte.

All das zeigt: Adele ist nicht nur längst in den höchsten Erfolgssphären angekommen, sondern hat auch mit ganz alltäglichen Problemen einer 33-jährigen Frau umzugehen. Natürlich unter besonderen Voraussetzungen. Denn sie hat dank ihrer Songs die Möglichkeit, Millionen Fans daran teilhaben zu lassen. Schon im Opener "Strangers By Nature" singt sie davon, Blumen auf das "Grab meines Herzens" zu tragen - der Verlust einer Liebe und lange erfahrener Sicherheit, er ist spürbar. Doch gleichzeitig präsentiert sich Adele als starke, emanzipierte Frau, die auch mit ihrem Ex abrechnet - allen voran im kraftvollen "Woman Like Me", einem der zentralen Stücke der Platte.

Bis man dahin gelangt, gibt es sogar ein bisschen kompositorische Abwechslung: Die erste Albumhälfte ist nämlich geprägt von verschiedenen Tempi und Stimmungen, besticht etwa das von vielen Gesprächssamples durchzogene "My Little Love" durch einen souligen Touch, der entfernt an die besten Tage von Lauryn Hill erinnert. Die Nummer ist eine Liebeserklärung an Angelo, der ebenfalls zu hören ist. "Mama's got a lot to learn", singt Adele im Refrain, gibt sich geerdet und beizeiten selbstkritisch. Wer durch einen Seelenstriptease peinlich berührt ist, wird ob des emotionalen Schlusses mit einer weinenden Adele vielleicht zur nächsten Nummer springen wollen - dabei allerdings ein definitives Highlight verpassen.

Aber Popmusik muss ja nicht zwingend am Herz rühren, sondern kann auch in die Beine fahren: Mit "Cry Your Heart Out" gibt es durchaus tanzbare Hochglanz-Kost inklusive eigenwilliger Stimmeffekte im Refrain, auch das anschließende "Oh My God" weiß mit flottem Drive zu überzeugen und drückt ordentlich an. Aber wirklich weit lehnt sich Adele aus ihrem angestammten Territorium nicht hinaus, was nicht zuletzt an erprobten Produktionspartnern wie Greg Kurstin, Max Martin oder Shellback liegen dürfte. Alle haben auch schon bei "25" Hand angelegt und verstehen natürlich ihr Geschäft. Wer sich ob des extrem angesagten Inflo (bekannt von seiner Band Sault oder der jüngsten Veröffentlichung von Rapperin Little Simz) ein paar neue Ideen erwartet hat, wird hingegen leider enttäuscht.

Aber zugegeben: Das alles ist jammern auf hohem Niveau. Stücke wie "I Drink Wine", in dem Adele über ihre Begeisterungsfähigkeit als Kind sinniert und angesichts des Menschen, der aus ihr geworden ist, die Stirn runzelt, oder "Hold On" ziehen alle Register, die für klaviergetragenen Mainstreampop notwendig sind. Die Grenze zum Kitsch wird mehr als nur gestreift, wenn etwa der Abschlusstrack "Love Is A Game" anfangs wie eine Disney-Nummer aus den Boxen tröpfelt. Aber irgendwie kratzt Adele jedes Mal gerade noch die Kurve, einer tollen Stimme sei dank. Auch der textliche Zugang spielt hier eine Rolle.

Adele, die einen Oscar für das Bond-Titelstück "Skyfall" ebenso zu Hause stehen hat wie nicht weniger als 15 Grammys, ist also zurück und hat uns ihr Leid gebeichtet. Sie hat aber gleichzeitig auch den Blick nach vorne gerichtet - zumindest, was ihr persönliches Leben angeht. "30" ist das Zeugnis einer jungen Frau, die sich seit ihrem Debüt "19" (2008) vom angesagten Geheimtipp zu einem der größten Stars im Business gewandelt hat - mit allen Vor- und Nachteilen, die das damit verbundene Scheinwerferlicht bringt. Die Songs sind ehrlich und funktionieren deshalb auch. Einzig: Neu, überraschend und wirklich spannend sind sie nicht. Aber vielleicht ist das im Popgeschäft auf diesem Level mittlerweile auch zu viel verlangt.

(S E R V I C E - www.adele.com)

ribbon Zusammenfassung
  • Sie ist eine jener Künstlerinnen, bei der die Welt den Atem anhält: Wenn Sängerin Adele nach sechs Jahren Wartezeit neues Material veröffentlicht, steht der Popzirkus Kopf und schießen die Streamingzahlen durch die Decke.
  • So geschehen bei der vor wenigen Wochen veröffentlichten Single "Easy On Me", und auch "30" wird diesem Beispiel folgen.
  • "Mama's got a lot to learn", singt Adele im Refrain, gibt sich geerdet und beizeiten selbstkritisch.