Nach schweren Vorwürfen: Seidl beklagt "Rufschädigung"
Die Liste der Vorwürfe reicht von angeblich ungenügender Information der Eltern bis zu mangelnder Versorgung der jungen Laiendarsteller.
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Nun feiert das Drama um einen von Georg Friedrich gespielten pädophilen Mann am Freitag Österreichpremiere auf der Viennale. Aus diesem Anlass sprach der 69-jährige Filmemacher mit der APA darüber, weshalb er die Anschuldigungen für unbegründet hält, warum er nun doch auf rechtliche Schritte verzichtet und weshalb er an seiner Arbeitsmethode nichts ändern wird.
APA: Fangen wir doch mit der im Kulturbereich eher unüblichen Sportreporterfrage an. Nach den wochenlangen Debatten um die Drehbedingungen von "Sparta": Wie geht es Ihnen?
Ulrich Seidl: Ich bin ja Debatten um meine Filme eigentlich gewohnt. Aber was hier stattfindet, ist eine massive Rufschädigung. Es geht letztlich in die Richtung, dass meine Arbeit der Vergangenheit in Misskredit gezogen wird. Dagegen muss ich mich wehren. Und deshalb möchte ich auch über die Drehbedingungen sprechen, denn ich weiß: Die Anschuldigungen sind unbegründet. Und sie sind unbewiesen.
Keine rechtlichen Schritte
APA: Sie hatten nach Veröffentlichung der "Spiegel"-Recherche angekündigt, sich rechtliche Schritte vorzubehalten. Sind diese mittlerweile eingeleitet?
Seidl: Das sind sie nicht. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass dieser Schritt nicht zielführend wäre. Denn "Der Spiegel" beruft sich auf anonyme Informanten, die sich nicht zu erkennen geben. Und dagegen kann man rechtlich schwer vorgehen.
APA: Ihre Fördergeber wie das Österreichische Filminstitut sind nach Bekanntwerden der Vorwürfe relativ schnell in eine gewisse Distanz zum Projekt gegangen. Hat Sie das enttäuscht?
Seidl: Na ja, sie haben sich neutral verhalten, würde ich sagen. Es waren wohl erst mal alle Fördergeber von der Massivität der Anschuldigungen geschockt. Das hat sich mittlerweile aber geändert. Ich habe ihnen gegenüber zu allen Vorwürfen und Anschuldigungen Stellung bezogen, ihnen alle Verträge und Unterlagen zukommen lassen. Es wird am Ende des Tages nichts überbleiben, davon bin ich überzeugt.
APA: Die meisten Vorwürfe sind offenbar aus Ihrem Team erfolgt. Hängt das mit Ihrer Arbeitsweise zusammen, den eigentlichen Dreh isoliert mit einer kleinen Kernmannschaft zu bewerkstelligen?
Seidl: Ich kann nur Vermutungen anstellen, weil die Anschuldigungen wie gesagt anonym erfolgt sind. Aber es gab Mitarbeiter, die später und dann nur für ein paar Tage in die Produktion eingestiegen sind. Ich schätze, dass sie in diesen Tagen falsche Eindrücke davon bekommen haben, wie ich arbeite. Vielleicht gab es das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, worauf Vermutungen angestellt wurden. Man fragt sich aber doch, warum diese Menschen nach den Dreharbeiten keine Anzeige gemacht haben, wenn die Dinge wirklich passiert wären, die sie nun, drei Jahre später, behaupten!
APA: Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Seidl: Ich weiß es nicht, aber es gibt offensichtlich ein Bedürfnis, mich in Misskredit zu bringen. Doch wenn man genau hinschaut, wird man nichts Unrechtes finden. Ich bin immer bestrebt, mit meinem Team und meinen Darstellern im Einvernehmen zu agieren und übernehme Verantwortung für das, was passiert. Natürlich ist meine Methode eine andere als im Filmgeschäft üblich. Aber genau diese Arbeitsweise führt zum Erfolg meiner Filme.
APA: Ein Kern der Vorwürfe betrifft eine Szene, in der eines der Kinder neben seinem Film-Stiefvater sitzt, der es überreden will, Schnaps zu trinken...
Seidl: Es geht speziell um diese eine Szene, in der inhaltlich der Stiefvater den Buben demütigt, um Ewald zu zeigen, dass er der Stärkere ist. Man muss allerdings die Genese im Vorfeld kennen. Ich war in allen Familien immer wieder zu Besuch, bevor überhaupt die Entscheidung über die Besetzung getroffen wurde. Ich habe ihnen den Inhalt des Films erklärt und die Umstände des Drehs. Das Kind war also informiert über die Situation, denn sonst kann es sich nicht natürlich vor der Kamera verhalten. Vor der konkreten Szene wusste das Kind auch, dass es Angst spielen sollte. Es war nicht vereinbart, dass es weinen sollte, was es dann getan hat - es dachte nämlich, dass die Mutter sauer ist, wenn sie glaubt, dass er Schnaps getrunken hat, was aber natürlich Wasser war. Das ist ein Umstand, den ich bei Kindern wie bei Laiendarstellern oft beobachte: Sie tendieren dazu, aus der Rolle auszusteigen und die Wirklichkeit mit der Rollenwirklichkeit zu verwechseln.
APA: Ist aber nicht genau das für Kinder besonders schwierig?
Seidl: Diesen Eindruck habe ich nicht. Ich kenne genügend Erwachsene, bei denen das genauso ist. Menschen verwechseln das, was sie spielen, mit dem, was sie wirklich sind.
APA: Das betreffende Kind soll nach dem Drehtag erbrochen haben...
Seidl: Das Kind wurde nach der Szene weiter betreut und viele Stunden später nach Hause gebracht. Es hat dann während der Fahrt am Abend erbrochen, was man der Mutter auch erzählt hat. Die hat das aber sehr unaufgeregt aufgenommen, weil das Kind das öfters täte, wenn es etwa müde sei.
APA: Abgesehen von der Frage der Arbeit mit Kindern, haben Sie in "Sparta" mit Menschen aus bildungsfernen, armen Schichten gedreht. Haben Sie mit diesen anders agiert als etwa mit österreichischen Darstellern?
Seidl: Nein. Ich mache auch keinen Unterschied in der Zusammenarbeit mit professionellen Schauspielern und Laien. Manche brauchen mehr, manche weniger Vorbereitungszeit. Aber meistens verwende ich viel Zeit darauf, dass sich jemand in seine Rolle einfindet. Die Darsteller müssen wissen, wer derjenige ist, den sie verkörpern. Sie müssen aber nicht wissen, welche Szene als nächstes ansteht. Deshalb gibt es auch kein Drehbuch für sie.
APA: Der Einzige, der das Drehbuch vor Ort kennt, sind Sie?
Seidl: Das ausgeschriebene Drehbuch habe ich, in dem aber keine Dialoge stehen. Und ich bin immer bereit, Szenen zu verwerfen, ausgehend von der Situation, die ich vor Ort habe.
APA: Würden Sie im Licht der Diskussion im Nachhinein Dinge anders machen beim Dreh von "Sparta"?
Seidl: Man ändert ja mit der Erfahrung immer Dinge. Mein großer Fehler nach dem Dreh war, dass ich den Kontakt zu den Eltern nicht gepflegt habe. Und während des Drehs selbst hätte ich besser mit den Kurzzeitteammitgliedern kommunizieren müssen. Dann hätte es da vielleicht ein besseres Verständnis gegeben. An meiner grundsätzlichen Methode werde ich aber nichts ändern. Dabei bin ich immer bemüht, mit den Menschen, mit denen ich arbeite, ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zu haben.
APA: Sie waren nach Veröffentlichung der "Spiegel"-Recherche bereits mehrfach in Rumänien und haben mit den Eltern gesprochen. Wie waren da die Reaktionen?
Seidl: Die Familien waren verunsichert, aber ich konnte ihnen die Situation erklären und habe ihnen den Film gezeigt. Darauf waren die Reaktionen durchweg positiv. Es erhebt dort niemand Vorwürfe gegen mich - weder gegen den Film noch die Produktionsbedingungen. Das haben die Familien mir auch schriftlich bestätigt. Ich habe alle besucht und dort das Vertrauen wiederhergestellt, das verloren gegangen ist. Sie hatten lange nichts gehört von mir, und dann sind die "Spiegel"-Journalisten gekommen und haben Befürchtungen bei ihnen ausgelöst.
APA: Befürchtungen welcher Art?
Seidl: Eltern haben mir etwa erzählt, dass ihnen gesagt wurde, ihr Kind könnte vielleicht im Internet auf irgendwelchen Pornoseiten auftauchen. Und eine Mutter hat mir berichtet, dass die rumänische Journalistin, die an der Recherche beteiligt war, ihr geraten habe, sich mit anderen Eltern zusammenzuschließen und gegen mich zu klagen - und sie würde den Anwalt zahlen! Die sind also immer wieder bedrängt worden und waren völlig verunsichert.
APA: 2019 gab es eine erste Ermittlung der Polizei in Rumänien, wobei diese alsbald eingestellt wurde. Nun sollen offenbar erneut Ermittlungen erfolgen?
Seidl: Für die Untersuchung aufgrund einer Anzeige wurden damals alle Eltern befragt. Alle Vorhaltungen wurden von den Eltern verneint und der Akt geschlossen. Durch die aktuelle Unsicherheit sind Polizei und Staatsanwaltschaft nun aufgerufen, dem wieder nachzugehen. Es wird also möglicherweise erneut eine Untersuchung geben, mehr weiß ich allerdings nicht.
APA: Haben Sie sich nach dem Aufwallen der Debatte "Sparta" nochmals im Hinblick auf mögliche Schnitte angesehen? Haben Sie den Film bis zur Weltpremiere in San Sebastian verändert?
Seidl: Ich habe hier und da noch etwas umgeschnitten, zum Beispiel innerhalb einer Tierszene, und auch bei den Credits. Aber es gab keine Veränderungen bei Szenen, in denen die Kinder vorkommen oder die mit den Vorwürfen zu tun haben.
APA: Hat die Diskussion in Ihren Augen also mehr mit dem Zeitgeist als mit der eigentlichen Sache zu tun?
Seidl: Absolut. Wenn man wirklich an der Wahrheitsfindung interessiert gewesen wäre, hätte man mich in die Recherchen einbeziehen müssen oder auch meinen Mitarbeiterstab, der bereit gewesen wäre, mit Namen in die Öffentlichkeit zu gehen. Das hat man aber nicht getan, sondern genau die Leute befragt, die einem das gesagt haben, was man hören wollte.
APA: Wie beurteilen Sie unter diesem Aspekt die Entscheidung des Filmfestivals von Toronto, das die geplante Weltpremiere von "Sparta" aus dem Programm gestrichen hat?
Seidl: Ich finde das selbstredend falsch! Es ist nicht richtig, dass Menschen verurteilt werden, ohne dass es Beweise für ein Vergehen gibt. Das ist doch eine Basis unseres demokratischen Verständnisses. Ich bin ein Beispiel für das reflexartige Canceln in der Kultur, das um sich greift.
APA: Das hat offenbar selbst Kurdwin Ayub betroffen, der eine Produktionsfirma für ihr neues Projekt "Mond" abgesprungen ist, weil Sie mit der Ulrich Seidl Film Produktion involviert sind...
Seidl: Ich verstehe das nicht. Das ist ein vorauseilender Gehorsam gespeist aus Angst. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
APA: Abseits der Debatte um den Dreh: "Sparta" ist gleichsam der Geschwisterfilm zu "Rimini". Eigentlich hatten sie ein gemeinsames Werk werden sollen. Wann im Prozess ist Ihnen aufgegangen, dass sie hier lieber Zwillinge als ein Einzelkind haben?
Seidl: Erst im Zuge eines langen Schnittprozesses. Und es wird aufgrund des Interesses mancher Geldgeber auch den einen Film geben, der über drei Stunden lang ist. Aber ich war nicht ganz überzeugt davon, sondern hatte das Gefühl, dass es dabei dramaturgische Probleme gibt, die nicht zu beheben sind. Dann hat sich nach langem die Möglichkeit herauskristallisiert, dass es zwei Filme geben könnte, die eigenständig bestehen können.
APA: Anders als Richie Bravo ist Ewald auf den ersten Blick eine Figur, die es schwieriger hat als Sympathieträger auf der Leinwand...
Seidl: Aber Ewald hat die Sympathie des Zuschauers, was mir sehr wichtig war - obwohl er pädophile Neigungen hat, was in der Gesellschaft ein großes Tabu ist. Trotzdem musste er in der Geschichte ein Mann sein, dessen Leiden man mit Empathie begegnet, weil er dagegen ankämpft. Sonst hätte man eine Täterfigur, und das wäre es dann. In "Sparta" nimmt Ewald nun die Rolle eines Ersatzvaters für die Kinder ein, die in vaterlosen Familien aufwachsen, weil die Väter im Westen arbeiten.
APA: Kann aus Ihrer Sicht ein positiver Effekt der Debatte um "Sparta" sein, dass der Film nun so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie Sie sich durch Werbung nie hätten leisten können?
Seidl: Ich befürchte, dass das so nicht funktioniert. "Rimini" ist vor zwei Wochen in Deutschland gestartet und läuft unter allen Erwartungen - wegen der Aufregung um "Sparta". Natürlich ist das Interesse an "Sparta" jetzt sehr groß. Das Problem ist aber, dass man nach der Debatte den Film nun mit anderen Augen sehen wird, weil alle die Frage im Kopf haben: "Was ist da passiert?" Abgesehen davon geht es ja bei dieser Debatte nicht um "Sparta", sondern um meine Person. Darauf hätte ich gerne verzichtet.
APA: Würden Sie dennoch einen früheren Kinostart als das ursprünglich in Aussicht gestellt Frühjahr anstreben?
Seidl: Ich möchte, dass der Film möglichst demnächst ins Kino kommt, damit die Zuschauer sich ein eigenes Bild davon machen können, unabhängig von der Geschichte, die der "Spiegel" konstruiert hat. Ich habe allerdings mit dem Verleiher bisher noch keine Einigung erzielt. Aber vom Interesse der Zuschauer her wäre der Zeitpunkt jetzt am besten.
Zusammenfassung
- Debatten haben Ulrich Seidls Filme immer ausgelöst.
- Doch die Diskussion um die Drehbedingungen zu seinem neuen Werk "Sparta", ausgelöst durch eine große "Spiegel"-Recherche, stellt eine neue Qualität dar.
- Regisseur Seidl will nach den schweren Vorwürfen gegen ihn seine Methoden nicht ändern und fühlt sich "reflexartig" gecancelt, wie er im Interview sagt.