Baustelle zwei Jahre nach Erdbeben in Türkei
Der Gastronom hatte vor der Wiedereröffnung große Sorge, obwohl das Beben da schon ein Jahr zurücklag. 53.000 Menschen wurden allein in der Türkei durch die Beben am 6. Februar 2023 getötet, in der Provinz Hatay, in der Antakya liegt, starben 24.000 Menschen. "Wir fürchteten, die Leute würden sagen, es sind so viele Menschen gestorben, wie könnt ihr da feiern." Elf Provinzen waren betroffen, aber keine so sehr wie Hatay.
Die Reaktionen auf die Wiedereröffnung der Rosinante waren euphorisch. Jeden Samstag ist das Lokal zur 90er-Party prall gefüllt, die Musik dröhnt bis in die umliegenden Ruinen. Aber noch immer fällt regelmäßig der Strom aus. "Dann singen die Gäste", sagt Genc.
Einige Hundert Meter weiter hat auch Cahit Güzelyurt sein Meyhane - ein traditionelles türkisches Gasthaus mit Livemusik - wieder eröffnet. Er versuche auf die Füße zu kommen, berichtet er. Eine Wand des historischen Gebäudes wurde durch das Beben zerstört. Durch diese stahlen Diebe alles, "inklusive der Stromkabel".
Nun sei das Lokal Serenat zwar wieder hergerichtet, aber so wie damals werde es wohl nie mehr, sagt der Inhaber. "Eine ganze Stadt ist verschwunden. Unsere Gäste sind weg. Viele sind gestorben, andere haben die Stadt verlassen."
Und nicht allen, die geblieben sind, ist nach Feiern zumute. Viele hätten alles verloren, zum Ausgehen bleibe da nichts übrig. Jetzt kommen andere ins Serenat, die zahlreichen Arbeiter zum Beispiel, die aus dem ganzen Land in die Stadt gekommen sind, um auf den Baustellen zu arbeiten.
Zwei Jahre nach den Beben gibt es in Antakya kaum lebenswerte Orte. Das Zentrum ist von einer gigantischen Baustelle beherrscht, aus der massenhaft Kräne, Betonmischanlagen und Rohbauten in die Höhe ragen. Laut Gouverneursamt entstehen hier rund 64.000 neue Wohnungen.
"Größte Baustelle der Erde"
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet die Arbeiten in den von den Erdbeben betroffenen elf Provinzen stolz als die "größte Baustelle der Erde". Auf ihr waren im Oktober 2024 dem Präsidenten zufolge 160.000 Menschen beschäftigt.
Für die Bewohner sei das eine handfeste Bedrohung, erzählt Mehmet Zencir, Generalsekretär der Türkischen Ärztekammer TTB. Die Staubbelastung in Antakya und an anderen Orten sei extrem hoch - und könne zur Ursache für Krebs werden. Zencir erwartet auch einen Anstieg der Herz- und Gefäßerkrankungen. Kurzfristig sehe man bereits deutlich mehr Atemwegsinfektionen. Menschen, die ohnehin schon krank seien, würden durch die hohe Belastung in der Luft außerdem weiter geschwächt. Der Regierung wirft Zencir unnötige Eile beim Wiederaufbau vor. Betonmischanlagen würden direkt ins Zentrum gebaut, um schnell voranzukommen. Das gesundheitliche Schicksal der dort lebenden und arbeitenden Menschen werde hintangestellt.
Die Erdbebenkatastrophe hat sich aber auch in die Psyche vieler tief eingegraben. Über Tage riefen Menschen unter den Trümmern nach Hilfe. Leute gruben mit allem, was sie fanden. Aber bis die notwendigen Maschinen da waren, war es für viele der Verschütteten zu spät. Die Hilferufe, die aus den Trümmern drangen, wurden von einem starken Verwesungsgeruch abgelöst.
Selbstmordgedanken und -versuche seien in der Region deutlich häufiger, berichtet die Psychologin Elif Özbakan, die in einem Traumazentrum in Antakya arbeitet. Auch der Drogenmissbrauch habe deutlich zugenommen. Methamphetamin etwa koste nur 20 türkische Lira - etwa 27 Cent. Ein verbreitetes Problem seien auch Beziehungsprobleme. Paare lebten in Container auf kleinsten Raum, häufig zusammen mit den Kindern. Für niemanden bleibe ein Rückzugsort.
Eine Prognose, wann Antakya wieder steht, will kaum einer wagen. Auch der Inhaber des Serenat, Güzelyurt, wirkt resigniert. Die Gesundheitsgefahren nimmt er in Kauf. Seine Stadt zu verlassen, werde nie eine Option sein - obwohl es sie eigentlich nicht mehr gibt.
Zusammenfassung
- Zwei Jahre nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei, bei denen am 6. Februar 2023 insgesamt 53.000 Menschen starben, ist Antakya von einer gigantischen Baustelle geprägt, auf der 160.000 Arbeiter beschäftigt sind.
- Die extrem hohe Staubbelastung durch die Bauarbeiten in Antakya stellt eine erhebliche Gesundheitsgefahr dar, mit einem Anstieg von Atemwegsinfektionen und langfristigen Risiken wie Krebs, warnt Mehmet Zencir von der Türkischen Ärztekammer.
- Die psychologischen und sozialen Folgen der Katastrophe sind tiefgreifend: Selbstmordgedanken und Drogenmissbrauch haben zugenommen, und viele Bewohner haben die Stadt verlassen, was das soziale Leben stark beeinträchtigt.