Antisemitismus: Jeder Dritte glaubt, Juden wollen Vorteil aus "Opfer-Status" ziehen
Im Auftrag des österreichischen Parlaments präsentierte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) am Dienstag den mittlerweile dritten Antisemitismusbericht. Das Institut für empirische Sozialforschung (Ifes) erhob dafür Daten zu antisemitischen Haltungen in Österreich.
Verschwörungsmythen haben wesentlichen Einfluss
Für die Erhebung wurden 2.000 Interviews telefonisch und online mit Personen ab 16 Jahren durchgeführt - ein spezieller Blick wurde auf die Gruppe der unter 25-Jährigen geworfen. Zusätzliche über 900 Befragte gehören der sogenannten "Aufstockungsgruppe" an, stammen also aus Familien mit je zur Hälfte türkischsprachigem bzw. arabischssprachigem Migrationshintergrund.
Das Ergebnis: Teilweise Jahrtausende alte Verschwörungsmythen haben wesentlichen Einfluss auf antisemitische Einstellungen. Dabei müssen diese nicht einmal per se etwas mit dem Judentum zu tun haben. Aber auch andere Faktoren gibt es. So drücken Menschen mit höherem Bildungsgrad deutlich weniger Zustimmung zu antisemitischen Aussagen aus. Auch das Basiswissen über Jüd:innen ist entscheidend - etwa zur Anzahl der im Holocaust Ermordeten.
Ein Drittel findet, Juden nutzen "Opfer-Status" aus
Verschwörungsmythen wuchern auch nach wie vor in Bezug auf den Holocaust. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass ein Drittel der Menschen in Österreich der Meinung sind, dass Juden heute versuchen, Vorteile daraus zu ziehen, Opfer während der Zeit des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Das glaubt auch ein Viertel der unter 25-Jährigen.
Immerhin 19 Prozent stimmten der Aussage zu: "Es ist nicht nur Zufall, dass die Juden in ihrer Geschichte so oft verfolgt wurden; zumindest zum Teil sind sie selbst schuld daran." Und 11 Prozent fanden, dass die Berichte über Konzentrationslager und Judenverfolgung übertrieben seien.
Die Meinung, Jüd:innen würden Vorteile aus dem "Opfer-Status" ziehen, sei noch stärker unter den türkisch- und arabischsprachigen Teilnehmer:innen der Befragung verbreitet. Hier habe mehr als die Hälfte der Teilnehmer:innen die Frage mit "voll und ganz" oder "eher schon" beantwortet. Außerdem sei aus den Ergebnissen ersichtlich, dass die arabisch- oder türkischsprachigen Befragten "durchgehend eine sehr viel stärkere antisemitische Einstellung an den Tag legten als die österreichische Gesamtbevölkerung". Projektkoordinator Thomas Stern betonte, dass es sich hier um keinen "monolithischen Block" handle. Vor allem der israelbezogene Antisemitismus sei hier stärker vertreten. 62 Prozent meinten etwa, dass sich Israelis in Bezug auf Palästinenser nicht anders verhalten würden als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg.
"Auf Krise folgt Antisemitismus"
Auch Ereignisse wie die Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine samt ihren Folgen hätten sich auf antisemitische Vorurteile ausgewirkt. "Man könnte sagen, auf Krise folgt Antisemitismus", resümierte Stern. Studienleiterin Eva Zeglovits hatte aber auch Positives zu berichten. So hätten jüngere Befragte von 16 bis 25 Jahren Antisemitismus durchaus in ihrem Umfeld identifizieren können - vor allem in sozialen Netzwerken, aber auch in deren eigenem Bekanntenkreis und in der Schule.
Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), der auch Auftraggeber der Studie ist, bezeichnete den Antisemitismus ein weiteres Mal als Gefahr für die Demokratie. Es handle sich dabei auch um kein Phänomen politischer Randgruppen, sondern werde dort schlicht sichtbar. "Wir brauchen eine Vielzahl von Instrumenten und ein neues Denken", plädierte Sobotka. Auf die Frage, warum seine Partei in Niederösterreich dann mit der FPÖ regiere, antwortete er lediglich, dass jede Bewegung ihre Vergangenheit aufarbeiten müsse.
"Kellernazis" nicht politisch legitimieren
"Die Ergebnisse sind erschreckend, aber nicht überraschend", reagierte Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) gegenüber der APA. Die Studie sei "ein wichtiges Element im Sichtbarmachen des Antisemitismus". Dass ein Drittel der Österreicher findet, dass Juden und Jüdinnen einen Vorteil aus der Nazi-Zeit zu ziehen versuchen, komme einer Verhöhnung gleich. "Es zeigt aber vor allem, dass es bessere Wissensvermittlung braucht - Wissen um die Shoah und Wissen über das Judentum selbst", meinte Deutsch.
Gefahr geht laut dem IKG-Präsidenten aber nicht nur von Rechtsextremisten und Islamisten aus. "Antisemitismus gibt es auch in der Mitte der Gesellschaft, das zeigen die Daten eindringlich." Umso wichtiger sei es, "dass Kellernazis nicht politisch legitimiert werden, wie zuletzt durch eine ÖVP-Zusammenarbeit mit der FPÖ in Niederösterreich". Die stärkere Anfälligkeit für Judenhass unter türkisch- und arabischsprachigen Österreichern verdeutliche abermals, dass weder die Politik noch die Zivilgesellschaft auf diesem Auge blind sein dürfen.
Zusammenfassung
- Ein Drittel der Österreicher:innnen ist der Meinung, dass Juden einen Vorteil daraus ziehen, Opfer während der Nazi-Zeit gewesen zu sein.
- Das zeigt der am Dienstag präsentierte Antisemitismusbericht 2022.