"Kluger Schachzug": Wie Österreich die Polen bezwang
Österreich hat im zweiten Gruppenspiel den langersehnten ersten Sieg erzielt. Das ganze Land ist in Extase, denn dieser Erfolg bedeutet, dass das ÖFB-Team noch alle Trümpfe in der eigenen Hand hat und aus eigener Kraft den Aufstieg schaffen kann. Das letzte Spiel geht gegen die Niederlande. Doch schauen wir uns das Polen-Match genauer an. Was haben Ralf Rangnick und seine Mannschaft diesmal richtig gemacht?
Polnische Mauer
Die Polen agierten wie erwartet im 5-3-2. Und obwohl Teamchef Michał Probierz auf drei Positionen Änderungen vornahm, blieb das Spiel der Polen erwartungsgemäß unverändert. Defensiv kompakt, im Zentrum dicht und mit wenig Ambitionen, das Spiel selbst zu gestalten. Auf der anderen Seite war offensichtlich, dass Teamchef Rangnick mit der Auftaktleistung gegen Frankreich nicht ganz zufrieden war - und außerdem gewisse Anpassungen zum Gegner vorgenommen hatte.
Die erste Umstellung, die sofort ins Auge fiel: Fan-Liebling Marko Arnautović durfte statt dem glücklosen Michael Gregoritsch von Beginn an spielen. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Rangnick weniger Notwendigkeit für Pressing und Laufpensum abseits des Balls erwartete - etwas, das wir auch in unserer Frankreich-Analyse vorausgesagt hatten.
Die anderen Wechsel betrafen Philipp Lienhart und Gernot Trauner, womit Rangnick die gesamte Innenverteidigung umkrempelte und Kevin Danso sowie Maximilian Wöber auf die Bank verbannte. Man muss Rangnick zugutehalten, dass er ein wahrhaftiger Rulebreaker ist und "konventionelle" Regeln konsequent ignoriert. Dass man in einem Großturnier nach dem ersten Spiel seine gesamte Innenverteidigung auseinanderbricht, ist unerhört - stellte sich aber schlussendlich als kluger Schachzug heraus.
Sabitzer, Laimer erneut nicht als Sechser
Auf den anderen Positionen gab es keine Veränderungen - sprich der glücklose Florian Grillitsch durfte wieder ran und Marcel Sabitzer sowie Konrad Laimer spielten wieder nicht auf ihrer angestammten Sechser-Position. Auch der gegen Frankreich schwache Phillipp Mwene durfte wieder auf der für ihn "falschen" linken Seite verteidigen.
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Doch ausgerechnet Mwene zahlte dieses Vertrauen zurück, indem er gleich zu Beginn nach einem schnellen Einwurf den Ball zu Trauner (9. Minute) flankte, der eiskalt per Kopfball Österreichs erstes Tor bei dieser EM erzielte. Dem Jubel von Rangnick und Co-Trainer Lars Kornetka nach zu urteilen, war das tatsächlich ein einstudierter Spielzug gewesen.
Umstellung in der ÖFB-Defensive
Besagter Trauner brachte mehr Qualität in das Aufbauspiel der Österreicher. So stark Danso defensiv gegen die Franzosen war, gegen Polen waren andere Qualitäten gefragt - auch weil der Gegner ohne Robert Lewandowski bei weitem nicht die Qualität in der Offensive hatte im Vergleich zum ersten ÖFB-Gegner mit Kylian Mbappé, Marcus Thuram, Ousmane Dembélé und Co.
Trauner spielt am liebsten in einer Dreierkette und agiert als zentraler Innenverteidiger stets auf sehr hohem Niveau. Rangnick hatte auch hierfür die passende Lösung parat. Im Spielaufbau kippte Nicolas Seiwald noch viel konsequenter ab als gegen Frankreich. Das machte der Leipzig-Legionär stets rechts von der Verteidigung und ließ sich nicht zwischen die Innenverteidiger fallen. So bildete das ÖFB-Team im Spielaufbau genau die Dreierkette, die Trauner entgegenkommt: Seiwald als nach rechts kippender Sechser, Trauner zentral, Lienhart links.
Überraschende Änderung mit "Baumi"
Eine weitere Umstellung von Rangnick: Christoph Baumgartner agierte tiefer als noch gegen Frankreich. Kippte Seiwald ab, so war es tatsächlich Baumgartner, der neben Grillitsch rutschte und das Spiel aus der Mitte heraus lenkte. Das war durchaus überraschend, da man dadurch weder Sabitzer noch Laimer im Zentrum nutzen konnte oder wollte.
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Wie erwartet hatten die Österreicher viel mehr Ballbesitz - in der ersten Hälfte zwischenzeitlich 65 Prozent. Die Polen sollten mit ihrem 5-3-2 eigentlich keine Probleme haben, das Zentrum mit bis zu acht Spielern zu verbarrikadieren und dem ÖFB-Team so das Leben schwer zu machen. Der ÖFB-Plan hierfür: Sabitzer und Laimer spielten statt im Zentrum am Flügel. Im Gegensatz zum Frankreich-Spiel interpretierten sie ihre Rolle auch wirklich als Flügelspieler.
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Es ist nachvollziehbar, wieso sich der ÖFB-Teamchef dafür entschieden hat. Laimer kann den rechten Flügel auf und ab laufen, spielte er doch beim FC Bayern die halbe Saison als rechter Außenverteidiger. Durch diese betonte Breite hatten die Polen zu Beginn tatsächlich große Probleme, Österreich zu verteidigen.
Leistungsabfall nach 20 Minuten
Doch nach 20 Minuten entglitt den Österreichern das Spiel komplett, sehr zum Leidwesen des Trainer-Teams. Die Polen konnten das Spiel offen halten, indem sie schnell bemerkten, dass das ÖFB-Aufbauspiel eindeutig zu Lasten des Pressings ging. Durch die breite Grundpositionierung von Sabitzer und Laimer war es nicht immer direkt möglich, in das klassische 4-2-2-2-Pressing umzuschalten.
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Immer wieder musste Österreich in ein tieferes 4-2-3-1 umswitchen. In den Phasen, in denen die ÖFB-Spieler tief verteidigen mussten, hatten sie einige Probleme. Man konnte sich oft nicht darauf einigen, wann man aus dieser tieferen Position aggressiv herausverteidigen und vorpreschen sollte - und wann man das Risiko meiden und sich fallen lassen sollte. So kam der Gegner zu Möglichkeiten - und die Polen erzielten den verdienten Ausgleich.
Grillitsch wieder nicht überzeugend
In der Halbzeit korrigierte Rangnick ein zweites Mal nach. Patrick Wimmer kam für den erneut nicht voll überzeugenden Grillitsch und rückte gleich auf den Flügel. Laimer durfte fortan auf seiner angestammten Position im Zentrum spielen. Dank dieses Wechsels konnten die Österreicher endgültig die Kontrolle an sich reißen. Die Rückkehr zur engeren Formation sowie die Hereinnahme von Alexander Prass (63.) spielte eine wichtige Rolle.
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Der Schlüssel lag erneut in der Flexibilität im Spielaufbau und der Fähigkeit, die Flügel effektiv zu nutzen. Durch eine besser abgestimmte Balance zwischen Breite und defensiver Stabilität konnte Österreich schließlich den Druck erhöhen und in der Schlussphase die entscheidenden Tore erzielen. Zuerst war es Baumgartner (66.) mit einem sehenswerten Treffer, gefolgt von einem Arnautović-Elfmeter (78.) nach Foul am starken Sabitzer.
So gelang dem ÖFB-Team der absolut verdiente erste Sieg bei dieser EURO. Das spiegelte sich auch in der finalen Expected-Goals-Statistik wider: 1,89 zu 1,6 für Österreich. Nun kommt es am Dienstag (18 Uhr/Servus TV & Servus-TV-Livestream auf JOYN) wie erwartet zum Showdown gegen die Niederlande.
Video: Party-Stimmung nach ÖFB-Sieg gegen Polen
Zur Person: Samuel Akhondi (30) kommt ursprünglich aus Wien und begann seine Karriere als Taktik-Analyst bei den Fußball-Fachmedien "90 Minuten" und "Spielverlagerung". Er ist Besitzer der UEFA-B-Lizenz und co-trainierte den FCM Traiskirchen zusammen mit Chefcoach Oliver Lederer. Während der WM 2018 arbeitete er gemeinsam mit Maximilian Senft als Taktik-Analyst für den ORF. Derzeit ist Akhondi Experte und Co-Kommentator bei Laola1, wo er die "LigaZwa" kommentiert. Zusätzlich arbeitete er als externer Spielanalyst für die Admira und den LASK, war Gast bei "Sport & Talk aus dem Hangar-7" und hat als Vortragender bei der Trainerausbildung des ÖFB agiert. Von Beruf ist er eigentlich Zahnarzt und arbeitet derzeit als Research Fellow an der Harvard School of Dental Medicine in Boston.
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Zusammenfassung
- Österreich besiegte Polen mit 3:1 im zweiten Gruppenspiel der EM.
- Ralf Rangnick nahm mehrere taktische Änderungen vor, darunter die Einwechslung von Marko Arnautović und eine Umstellung in der Innenverteidigung.
- Das erste Tor erzielte Gernot Trauner in der 9. Minute durch einen einstudierten Spielzug.
- In der zweiten Halbzeit brachte Rangnick Patrick Wimmer und Alexander Prass ins Spiel, was zur Kontrolle und den entscheidenden Toren führte.
- Die Expected-Goals-Statistik zeigte einen leichten Vorteil für Österreich mit 1,89 zu 1,6.
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