Akribie der Mathematikerin brachte Kiesenhofer Gold
Die gesamten 137 Kilometer, am Schluss im Stil eines Einzelzeitfahrens, fuhr Kiesenhofer an der Spitze und düpierte so als Amateurin die großen Stars um die hoch favorisierten Niederländerinnen. "Konkret vom Olympia-Sieg zu träumen habe ich mich nie getraut. Aber der ehrgeizige Teil von mir will immer gewinnen", sagte die Niederösterreicherin.
Dafür nahm sie Risiko und griff sofort mit Freigabe des Rennens an. "Es ist immer ein bisschen ein Risiko, aber mir war klar, dieses Risiko will ich eingehen", erklärte die 30-Jährige. Nach Gesprächen mit Klaus Kabasser, ÖRV-Nationaltrainer Frauen, "waren wir beide der Meinung, dass es gut ist, dass ich attackiere".
Zusätzlich bestärkt wurde sie vom Männerrennen, das Richard Carapaz auch solo gewonnen hatte. Auch da hatte sich eine Ausreißer-Gruppe von den ganz großen Favoriten abgesetzt und von deren Uneinigkeit in der Nachführarbeit profitiert. "Ich habe das Männerrennen gesehen, dass die am Anfang attackiert und einen großen Vorsprung geholt haben. Beim Zuschauen habe ich gesagt, cool. Wenn ich auch so einen Vorsprung hätte", erzählte Kiesenhofer.
Die Niederländerinnen verloren zudem den Überblick über das Renngeschehen, weil bei Olympia kein Funkkontakt erlaubt ist. Die letztlich zweitplatzierte Annemiek van Vleuten glaubte bei der Zieldurchfahrt, gewonnen zu haben. "Ja, ich dachte, ich habe gewonnen. Ich habe mich sehr dumm gefühlt, als ich es mitbekommen habe", gestand sie unter Tränen. "Wir müssen uns selbst die Schuld geben, dass wir nicht über Anna Kiesenhofer Bescheid wussten."
Kiesenhofer, die van Vleuten ein bisschen als Vorbild sieht, konnte sich "schwer erklären, wie den Niederändern dieser Fauxpas passiert ist. Man hat die Zeitabstände am Board gezeigt, man wusste nur nicht, wer ist 45 Sekunden hinter mir. Es ist für sie blöd gelaufen. Im Einzelzeitfahren hätte ich keine Chance gegen sie - es ist trotzdem cool".
Die nun bekannteste Einwohnerin von Niederkreuzstetten gilt als ehrgeizig, durchsetzungsstark und entsprechend ihrem Beruf als Tüftlerin. So hat sie sich akribisch auf das Olympia-Rennen vorbereitet, Simulationen mit Leistung gemacht. "Richtige Mathematik ist es nicht. Aber ich habe ein Programm, wo ich mir ausrechne, abhängig vom Wetter wo ich bin, wo kann ich Verpflegung planen, habe das Material optimiert und das Training optimal aufgebaut. Die analytische Denkweise hilft."
Das zieht sie ohne Team durch, nachdem sie 2017 eine mögliche Profikarriere ablehnte. "Mir hat das Leben im Profiteam nicht so recht zugesagt. Das hat nicht zu meinem Charakter gepasst. Ich bin halt Einzelkämpferin und ich plane gerne für mich selbst. Ich habe gerne die Kontrolle, und im Team muss man dann immer Anweisungen von oben erfüllen. Schlussendlich habe ich die Dinge wieder in meine Hände genommen", sagte sie im ORF-Interview.
Aber auch das Training in Eigenregie sei natürlich hart, ihr engstes Umfeld mit ihrem Freund wisse um die Opfer die man bringen müsse und Einheiten, die nicht leicht von der Hand gehen, so Kiesenhofer. "Im Rennen habe ich auch gelitten, aber oft ist es noch härter im Training zu leiden."
Dass sie sich nicht komplett auf den Radsport konzentrieren kann, sieht sie nicht als großen Nachteil. "Vermutlich ist mein Training nicht schlechter, vielleicht nicht einmal weniger umfangreich", meinte sie. Profis müssten viele Rennen fahren, benötigen viel Organisation, haben Reisestress. "Ich habe einen Job, aber sonst einen sehr geregelten Ablauf, Essen, Trainingszeiten, Regeneration, es ist weniger stressig", erklärte die in Lausanne am Ecole Polytechnique Federale als Expertin für partielle Differentialgleichungen arbeitende Weinviertlerin.
Ob sich daran was ändern wird und sie eventuell wieder einen anderen Weg einschlagen wird, konnte sie so kurz nach dem Sensationscoup selbst nicht sagen. Eine richtige Profikarriere schloss sie aber aus. Auch weil sie mit Betreuern nicht nur gute Erfahrungen gemacht habe. Deshalb würde sie ihrem jüngeren Ich auch raten, Autoritätspersonen nie blind zu vertrauen. Das gelte etwa für Trainer und Sportdirektoren. "Niemand weiß alles, man sollte selbst nachdenken, niemandem zu schnell vertrauen."
Zusammenfassung
- Mit Angriffsgeist, Mut und inspiriert vom Männerrennen am Vortag hat Anna Kiesenhofer den Husarenritt gewagt.
- Mit einer Überraschungsattacke gleich am Start rechnete sich die Mathematikerin beim Rad-Straßenrennen die besten Chancen aus und belohnte sich mit Olympia-Gold.
- "Verrückt" und "unglaublich" nannte Kiesenhofer im Interviewmarathon danach die Riesensensation.
- Dafür nahm sie Risiko und griff sofort mit Freigabe des Rennens an.