Militärexperte: Ukraine hat Geschichte geschrieben
Ein im Raum stehendes Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und dem russischen Machthaber Wladimir Putin könne "entscheidend" sein: "Man kann davon ausgehen, dass es bereits Vorbereitungen gibt für dieses Treffen", sagte Reisner. Das Treffen werde aber erst dann stattfinden, wenn sich in den Vorabsprachen etwas herauskristallisiere, das man präsentieren kann. "Trump wird sicher etwas herzeigen wollen, um nicht als Verlierer aus diesem Treffen herauszugehen." Ein Erfolg werde auch davon abhängen, ob Trump und Putin "sich verstehen". Reisner: "Das Paradoxe ist, dass die Chance so groß wie noch nie zuvor in den letzten drei Jahren ist, dass es zu einer Einigung kommt. Aber es könnte auch die Chance einer Eskalation sein, wenn beide keine gemeinsame Gesprächsbasis finden. Und das ist das Gefährliche daran."
Russland habe es mit seinen Luftangriffen geschafft, fast 80 Prozent der kritischen Infrastruktur der Ukraine zu zerstören oder schwer zu beschädigen. Moskau gehe auf der strategischen Ebene dazu über, "nicht nur die Energieversorgung anzugreifen, sondern auch die Gasversorgung", berichtete Reisner. Damit versuche Russland der Ukraine die Möglichkeit zu nehmen, selbst Ressourcen zu produzieren, also Rüstungsgüter. Andererseits sollten diese "Terrorangriffe" auch dazu dienen, die Bevölkerung so einzuschüchtern, dass es zu einem politischen Umschwung in der Ukraine kommt.
Zudem stehe die Ukraine vor der großen Herausforderung, was die Verfügbarkeit von Soldaten betreffe. "Die operative Ebene stellt sich so dar, dass die Ukraine drei Fronten zu bewirtschaften hat - mit Material, Ausrüstung, Gerät, aber auch Soldaten." Sie habe die lange Front im Donbass von Saporischschja bis nach Kupjansk mit fast 1.100 Kilometern; einen kurzen Frontabschnitt bei Charkiw von auch knapp 200 Kilometern und den Abschnitt in der russischen Region Kursk von auch jeweils ca. 150 bis 200 Kilometern. In manchen Teilen der Front sei der "Befüllungsgrad" der ukrainischen Kampfverbände sehr gering, also nur 25 bis 35 Prozent der Soldaten, die eigentlich vorhanden sein sollten, sind tatsächlich verfügbar.
Russland nahm in 12 Monaten 4.500 Quadratkilometer ein
"Russland kennt diese Lücken und versucht, sie wo immer möglich zu durchzustoßen", erklärte Reisner. "Die Russen üben einen enormen Druck aus und versuchen faktisch, vor allem im Donbass weiter vorzustoßen, mit der Zielrichtung in den nächsten Oblast hinein einzutreten: das ist Dnipropetrowsk". Innerhalb der vergangenen zwölf Monate sei es den Russen gelungen, ca. 4.500 Quadratkilometer in Besitz zu nehmen. Das ist mehr als die zehnfache Fläche Wiens. Die Ukraine hingegen habe es dagegen nur geschafft, ca. 500 Quadratkilometer im Kursk-Raum zu erobern bzw. noch zu halten. "Das heißt, man sieht, dass das Momentum nach wie vor bei den Russen ist."
Der Einsatz von Drohnen auf taktischer Ebene mache es den Ukrainern möglich, Russland auf Distanz zu halten und Verluste zuzufügen sowie zum Teil auch die Personalausfälle zu kompensieren. Drohnen eignen sich laut dem Bundesheerstrategen zwar, um im unmittelbaren Nahbereich Russen zu bekämpfen, aber nicht, um etwa Artillerie zu zerstören. Erfolgreich sei auch die Drohnen-Luftkampagne der Ukraine, die von den 30 wichtigsten russischen Raffinerien bereits 20 angegriffen habe. "Aber die Erfolge halten sich immer noch in Grenzen, sodass sie nicht unmittelbar messbar sind."
Die Zerstörung von russischen Munitionslagern und der Erdölproduktion wäre ein messbarer Erfolg für die Ukrainer. "Aber das sehen wir noch nicht", sagte Reisner. Es gebe zwar Einbrüche, aber diese seien im Vergleich zu dem, was die Ukraine erleiden müsse, nicht so schmerzhaft, als dass sie Russland zum Einlenken bewegen würden. "Die Frage ist eher, wie lange kann die Ukraine durchhalten." Diese Frage beantwortet Reisner so: Die Ukraine könne so lange durchhalten, solange die USA und die Europäische Union ihr zur Seite stehe. "Wenn diese Unterstützung fehlt, kann die Ukraine diesen Krieg nicht weiterführen." Die Waffenlieferungen müssten mindestens auf dem bisherigen Niveau bleiben, bzw. aus Reisners Sicht sogar zunehmen. Denn sonst habe die Ukraine "irgendwann einmal keine Soldaten mehr".
Wechselbad der Gefühle
Angesprochen auf die Verluste verwies Reisner auf Aussagen Trumps. Der US-Präsident hatte unlängst die Zahl von 800.000 bis 900.000 getöteten und verwundeten russischen Soldaten genannt sowie geschätzte 700.000 auf ukrainischer Seite. Das Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) schätzt, dass mindestens 172.000 russische Soldaten getötet und 611.000 verwundet wurden, von denen mindestens 376.000 schwer. In diesen Zahlen sind auch viele vermisste Soldaten inkludiert.
Seit Trump die Präsidentschaft übernommen habe, erlebe die Ukraine "ein Wechselbad der Gefühle", sagte Reisner. Aussagen des US-Präsidenten, wonach Teile der Ukraine vielleicht bald russisch würden oder dass er für Waffenlieferungen Gegenleistungen wie Seltene Erde wolle, seien für Kiew freilich irritierend. Auch die Aussage des US-Verteidigungsministers Pete Hegseth, dass eine Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen der Ukraine "unrealistisch" sei, ein dauerhafter Frieden nur "mit einer realistischen Einschätzung der Situation am Schlachtfeld möglich sein" und dass Trump "die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO nicht als Teil eines Friedensplans unterstütze", seien schwere Rückschläge für die Ukrainer. Interessant sei aber auch, dass sich das "Wording" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geändert habe: Von "wir geben keinen Quadratmeter her bis jetzt, wo er sagt: Okay, wir sind bereit, sogar ein Gebiet zu tauschen."
Drohnen über Deutschland
Russland setze weiterhin auf hybride Kriegsführung: So seien jetzt beispielsweise in Deutschland immer wieder Drohnenüberflüge zu beobachten. Dabei handle es sich nicht um Drohnen aus Russland, sondern sie würden vermutlich von Schiffen im Norden Deutschlands aus gestartet und zum Beispiel über Übungsplätze fliegen, wo ukrainische Soldaten ausgebildet werden. Damit versuchten die Russen, die Handys der ukrainischen Soldaten zu orten, erklärte Reisner. "Wenn Soldaten in Norddeutschland an einer Patriot-Batterie ausgebildet werden, dann brauchen sie ja nur den Handydaten zu folgen und wissen, wo diese Patriot-Batterien in der Ukraine sind."
Ein zweiter Zweck sei der Versuch, die Bevölkerung in Deutschland einzuschüchtern. Den Menschen solle gezeigt werden, "wie hilflos sie eigentlich sind, weil man nicht einmal diesen Drohnen Herr werden kann, die da in Deutschland fliegen". Das sei klar eine Anwendung von Methoden der "hybriden Kriegsführung".
Zusammenfassung
- Drei Jahre nach Beginn des Krieges hat die Ukraine laut Militärexperte Markus Reisner 'Geschichte geschrieben', ist jedoch in einem Abnutzungskrieg gefangen, wobei Russland im Vorteil ist.
- Ein mögliches Treffen zwischen US-Präsident Trump und Russlands Präsident Putin könnte entscheidend für eine Einigung oder Eskalation sein, wobei die Chancen auf eine Einigung so groß wie nie zuvor sind.
- Russland hat fast 80% der kritischen Infrastruktur der Ukraine zerstört und in den letzten 12 Monaten 4.500 Quadratkilometer erobert, während die Ukraine nur 500 Quadratkilometer halten konnte.
- Die Ukraine steht vor Herausforderungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Soldaten, mit einem Befüllungsgrad der Kampfverbände von nur 25 bis 35% in manchen Teilen der Front.
- Die Verluste auf russischer Seite werden auf 800.000 bis 900.000 Soldaten geschätzt, auf ukrainischer Seite auf 700.000, was die Dringlichkeit internationaler Unterstützung unterstreicht.