Besuch in Auschwitz "bedrückend und auch sehr lehrreich"
Etwa 60 Prozent der Besucher sind junge Menschen unter 26 Jahren, auch weil viele Schulexkursionen hierher führen. Bei einem Rundgang im nunmehrigen Museum des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wird an die unfassbar grausamen Zeiten erinnert, als hier bis zu 1,5 Millionen Menschen ermordet wurden. Unter anderem in Gaskammern. Bis heute ist Auschwitz im damals von Nazi-Deutschland besetzten Polen das Synonym für den Holocaust, den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti, Roma und anderen rassisch oder politisch Verfolgten, und damit ein Symbol für das schwerste Erbe der deutschen und auch österreichischen Geschichte.
Ein Besuch beginnt in einem von Betonwänden eingefassten Gang, der zum Eingang des ehemaligen Stammlagers führt. Aus an den Wänden angebrachten Lautsprechern ertönen monoton Namen von hier ermordeten Opfern. Das Stammlager Auschwitz I wurde auf Befehl von SS-Reichsführer Heinrich Himmler errichtet. Warum die auf Polnisch Oświęcim genannte Kleinstadt ausgewählt wurde, erklärt Mirosław Obstarczyk. Der Historiker ist Kurator im KZ-Museum. "Auschwitz liegt 60 Kilometer von Krakau in der Woiwodschaft Kleinpolen und 40 Kilometer von Kattowitz in Oberschlesien entfernt", erzählt er bei einer Tour durch das KZ. "Hier befand sich ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Das war für die Transporte der Häftlinge in Viehwaggons sehr günstig."
Außerdem standen an dem Ort noch Baracken aus der Zeit der k.u.k.-Monarchie. Sie dienten dereinst als Quarantänestationen, weiß der Museumskurator. "Die zu Österreich-Ungarn zählende Region Galizien war sehr arm und dicht bevölkert. Daher drängte die Obrigkeit die Menschen zur Auswanderung nach Nord- und Südamerika. Hier wurden medizinische Checks durchgeführt, ehe diese sehr einfachen Leute zu Dampfschiffen gebracht wurden, mit denen sie dann nach Übersee fuhren."
Oświęcim war um 1940 eine gut entwickelte Provinzstadt, sodass die Nazi-Führer hier bequem wohnen konnten, erläutert Mirosław Obstarczyk weiter. Dafür mussten rund 12.000 Anrainer im Schnellverfahren umsiedeln. Ihre Wohnungen und Häuser wurden entweder zerstört oder von den Deutschen besetzt. So auch eine unweit des KZ-Eingangs stehende Villa. In ihr wohnte fortan der SS-Obersturmbannführer und Lagerkommandant Rudolf Höß mit seiner Familie, erinnert der Museumskurator. "1943 wurde seine jüngste Tochter in diesem Haus geboren. Kommandant Rudolf Höß wohnte etwa 90 Meter von einer Gaskammer entfernt, in der Zehntausende Menschen ermordet wurden. Als er im November 1943 nach Oranienburg in Deutschland versetzt wurde, weigerte sich seine Frau Hedwig, ihn zu begleiten."
Film "Zone of Interest" über banalen Alltag der Kommandantenfamilie
Laut Überlieferung sagte sie Folgendes: "Ich will nicht nach Deutschland. Ich will nicht nach Berlin, das von Barbaren bombardiert wird. Ich habe Angst um meine Kinder. Dies ist mein Platz auf der Erde. Hier will ich leben, hier will ich sterben. Das ist mein Paradies." Der Historiker kann es nicht fassen. "Stellen Sie sich das vor: Mein Paradies! 90 Meter von der Gaskammer entfernt." Die absurde Alltagsbanalität im Schatten des Bösen wurde 2023 in dem Film "Zone of Interest" thematisiert, erinnert Mirosław Obstarczyk dann. Er wurde aber auf einem Nachbargrundstück gedreht. Das Originalhaus ist bewohnt und stand für Aufnahmen nicht zur Verfügung.
In dem Film gebe es keine Gewalt, keine Brutalität, resümiert der Guide: "Es wird nur das Leben einer ganz normalen deutschen Familie geschildert. Bloß dass das Familienoberhaupt einen etwas unüblichen Job hat. Das ergibt eine ganz andere Perspektive des Holocaust. Das Bewegende daran ist wohl, dass es zeigt, dass die SS-Schergen oder das Wachpersonal oft Durchschnittsmenschen waren. Keine Außerirdischen von einem anderen Stern. Es wurde auch niemand gezwungen, Dienst im Konzentrationslager zu schieben. Die Alternative wäre freilich die Front gewesen. Da blieben die meisten hier, weil sie hier leichter überleben konnten."
Zynischer Slogan "Arbeit macht frei"
Ein paar Schritte weiter ist der KZ-Eingang erreicht. Auf einem metallenen Torbogen prangt die Aufschrift "Arbeit macht frei". Ein zynischer Slogan, meint der Guide: "Das sollte wohl suggerieren, dass man die Freiheit erlangen konnte, wenn man gehorsam war und hart arbeitete. Natürlich war das nicht wahr. Die meisten Insassen überlebten nicht. Man schätzt, dass etwa 60 Prozent der Gefangenen hier in Auschwitz-Birkenau umkamen. Viele wurden in andere Lager verlegt, wo die meisten ebenfalls starben."
Bei einer der zahlreichen Informationstafeln deutet der Historiker auf ein Bild, das die Selektion zeigt, die nach der Ankunft der in Viehwaggons gepferchten Häftlinge auf der Bahnsteigrampe im Nebenlager Birkenau vorgenommen wurde. "Nur Menschen, die noch arbeitsfähig aussahen, hatten eine Chance aufs Überleben. Alte, Kinder oder Schwangere wurden meistens sofort auf die Seite geschickt. Es wurde ihnen gesagt, sie würden einmal duschen gehen. Das war eine reine Lüge. Das merkten die Betroffenen schnell, sobald sie in der Gaskammer waren. Je nach Wetterlage dauerte das Töten dort zwischen zehn Minuten im Sommer und bis zu 25 Minuten im Winter."
"Aussichtsloser Überlebenskampf"
Die Opfer gerieten in Panik, verfielen in Hysterie. "Es war ein aussichtsloser Überlebenskampf. Danach waren die Körper der Toten oft völlig verkrümmt und mit Blut, Exkrementen und Erbrochenem bedeckt. Die Leichen wurden dann mit Industrieaufzügen zum Krematorium hinaufgehoben. Vor dem Verbrennen durchsuchten sie die KZ-Wächter noch nach Gold, Geld oder Schmuck."
In den erhaltenen geblieben Baracken des Stammlagers Auschwitz sowie des Nebenlagers Birkenau sind in Ausstellungsräumen die menschenunwürdigen Lebensbedingungen dokumentiert. In dreistöckigen Pritschen mussten oft dreimal so viel Menschen liegen, als Platz vorhanden war. Benützbare Toiletten waren oft nicht vorhanden. Wer abends ins Freie ging, um die Notdurft zu verrichten, lief aber Gefahr, von den Wachen erschossen zu werden.
Unzählige herrenlose Koffer belegen, wie viele Menschen hier ihr Dasein einbüßten. In einer Vitrine sind mehrere Tonnen Haarbüschel ausgestellt. Sie waren Abertausenden dem Tod geweihten Frauen abgeschnitten worden, um daraus Schiffstaue oder Stoffe für Militäruniformen anzufertigen.
Wie anderen Ländern ist auch Österreich eine nationale Ausstellung gewidmet. In Block Nummer 17. Die aktuelle Exposition wurde am 4. Oktober 2021 von Bundespräsident Alexander Van der Bellen eröffnet. Ihr Titel "Entfernung: Österreich und Auschwitz" verweist auf die geografische Distanz. Aber auch auf die "Entfernung" der Deportierten aus der Gesellschaft, die meist mit ihrer Ermordung endete.
Österreich präsentierte sich lange als "erstes NS-Opfer"
Zuvor hatte sich Österreich in Auschwitz-Birkenau in einer Schau noch als "erstes Opfer des Nationalsozialismus" präsentiert, erinnert sich der Museumskurator. Die Mittäterschaft wurde weitgehend ausgeblendet. "Schon in den 1990er-Jahren protestierten österreichische Zivildiener, die hier Gedenkdienst absolvierten, gegen diese Darstellung", erinnert er sich. "Sie meinten, 90 Prozent der Österreicher hätten den Nazi-Diktator Adolf Hitler doch willkommen geheißen. Es gab eine lange Diskussion, aber letztlich wurde die neu gestaltete Ausstellung eröffnet."
Diese dokumentiert auch die Täterrolle. Fotos zeigen Österreicher in SS-Uniformen. "Viele Nazi-Verbrecher waren Österreicher", meint der Kurator. "Sie besetzten wichtige Posten in der SS. Im Deutschen Reich machten sie nur rund 6 Prozent der Bevölkerung aus. Unter den Führern in den Todeslagern waren es aber schätzungsweise 30 Prozent." In Vitrinen sind ihre Verbrechen aufgelistet. Manche büßten dafür nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Leben. Andere hingegen kamen weitgehend unbehelligt davon.
In einem weiteren Raum wird der Opfer gedacht. In einer Audioinstallation schildert die 1985 verstorbene Widerstandskämpferin Anna Sussman ihre furchtbaren Erlebnisse: "Ich habe in Auschwitz entbunden, ein lebendes Kind, einen Buben." Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele habe das Baby genommen und ins offene Feuer in einem Herd in der Baracke, geworfen.
Ihr Ehemann, Heinrich Sussman (1904-1986), erzählt in einem weiteren Audiofile über seine Verbindung zu Herrmann Langbein, einem der Chefs der Widerstandsbewegung des Lagers.
Widerstandsbewegung "Kampfgruppe Auschwitz"
Der 1912 in Wien geborene Hermann Langbein zählte zur internationalen "Kampfgruppe Auschwitz". In der Ausstellung ist eine ausgehöhlte Kleiderbürste zu sehen, in der Langbein Aufzeichnungen über die Zustände in Auschwitz versteckte. Die mit der Häftlingsbewegung kollaborierende Krankenschwester Maria Stromberger schmuggelte sie nach Wien. Es war ein Versuch, die Weltöffentlichkeit über die KZ-Gräuel zu informieren. Langbein überlebte und war 1954 ein Mitbegründer des Internationalen Auschwitzkomitees. Mit Büchern wie "Menschen in Auschwitz" und als Zeitzeuge kämpfte er bis zu seinem Tod 1995 gegen das Vergessen der NS-Verbrechen an.
Eine Mädchengruppe aus Deutschland hat an diesem Nachmittag die Österreich-Baracke betreten. Darunter ist Sara Mulla. Die Schülerin der Oberstufe ist mit ihrer Klasse auf Gedenkstättenfahrt. Sie fasst ihre Eindrücke zusammen. "Es ist auf jeden Fall bedrückend und auch sehr lehrreich." Ihre Eltern seien aus Bangladesch nach Deutschland ausgewandert, erzählt sie dann. Daher gehe ihr das hier Erlebte vielleicht besonders nahe.
Auch die Aktualität ist "deprimierend"
Sie sei keine Jüdin, aber Muslimin. "Da erlebt man ja auch Diskriminierung, je nachdem, welche Hautfarbe man hat", erzählt die junge Frau. "Wenn Leute davon ausgehen, dass man keine Deutsche ist." Die Zeiten seien nicht vergleichbar, meint Sara Mulla. Sorgen habe sie aber schon. In Deutschland sei vor einiger Zeit ein Video von der Ferieninsel Sylt viral gegangen, wo auf einer Party "Ausländer raus" gesungen wurde. "Persönlich war ich sehr enttäuscht, dass es Menschen gibt, die immer noch so denken. Das ist auch deprimierend."
(Von Edgar Schütz/APA)
Zusammenfassung
- Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, wo sie etwa 7.000 Überlebende fanden.
- Auschwitz wird jährlich von über 1,7 Millionen Menschen besucht, davon sind 60 Prozent junge Menschen unter 26 Jahren.
- In der Ausstellung in Block 17 wird die Mittäterschaft von Österreichern im Holocaust dokumentiert, darunter viele in SS-Uniformen.
- Der zynische Slogan 'Arbeit macht frei' am Eingangstor von Auschwitz steht im krassen Gegensatz zur Realität, dass 60 Prozent der Gefangenen in Auschwitz-Birkenau starben.
- Der Film 'Zone of Interest' thematisiert den Alltag der Kommandantenfamilie in Auschwitz und zeigt, dass viele SS-Schergen Durchschnittsmenschen waren.