Lager deutscher Pfadfinder mit Kohten genannten ZeltenWikipedia / ChristianBier

"Weggesehen": Über 100 Missbrauchs-Opfer bei Pfadfindern

Eine neue Studie arbeitet sexuelle Missbrauchsfälle bei den Pfadfindern in Deutschland auf. Über 100 Opfer - Mädchen und Buben und Dutzende Täter werden aufgelistet.

Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) geht von 123 Betroffenen und mindestens 50 Beschuldigten beim Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) aus. Dazu kommen 24 Beschuldigte und 26 Betroffene, die zwar aus dem "Pfadfinderkontext" stammen, aber nicht zum Verband gehören.

Opfer: Mädchen und Buben, Täter männlich

Betroffen waren nach Angaben der Wissenschafterinnen und Wissenschafter bei den Pfadfindern ebenso viele Mädchen wie Buben. Die Täter seien allerdings nahezu ausschließlich männlich.

Dabei gebe es "zwei Prototypen", heißt es in der Studie:

  • der ältere, erwachsene Pfadfinder und
  • der Jugendliche oder junge Erwachsene, "der seine Stellung als Leitungsfigur benutzt, um Jüngere sexuell auszubeuten".

Die "riskantesten Orte" waren laut der Studie, Pfadfinderlager, Reisen und Stammestreffen.

Übergriffe habe es "im Rahmen von Spielen und Ritualen" gegeben und in privaten Situationen; wenn Kinder und Jugendliche nach Hause gefahren worden seien beispielsweise.

Weil oft sehr junge Leute in Leitungsfunktionen seien, sei es nicht einfach, zwischen völlig einvernehmlichen Beziehungen unter Jugendlichen und denen, in denen jemand seine Macht missbraucht, zu unterscheiden.

Große Dunkelziffer

Das IPP München, das unter anderem sexuelle Gewalt in der Odenwaldschule und im oberbayerischen, katholischen Kloster Ettal untersucht hat, hat die Studie gemeinsam mit "Dissens – Institut für Bildung und Forschung" in Berlin durchgeführt.

Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Jahren zwischen 1976 und 2006. Die Forscher gehen von einem großen Dunkelfeld aus - unter anderem, weil aus einigen Bundesländern überhaupt keine Informationen geliefert worden seien.

Viel gewusst - lange geschwiegen

Caspari sagte, es gebe Andeutungen, dass Menschen sehr viel wussten, aber nichts sagen wollten, seine IPP-Kollegin Helga Dill vom IPP berichtete von "anonymen Briefen, in denen schwere Formen von sexualisierter Gewalt geschildert wurden". Als mögliche Gründe, warum Opfer bis heute schweigen, nannte sie Angst vor dem Täter, aber auch "überdauernde Loyalitäten gegenüber der eigenen Pfadfindergruppe", das Festhalten an einem Idealbild. Man wolle kein Nestbeschmutzer sein. Außerdem sei die Angst groß, nicht mehr dazuzugehören.

Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder wurde 1976 gegründet, ist nach eigenen Angaben interkonfessionell und überparteilich und erreicht rund 30.000 Mitglieder. Ziel seiner pädagogischen Arbeit soll es sein, Kindern und Jugendlichen "Gemeinsinn und Verantwortung, Weltoffenheit und Umweltbewusstsein" zu vermitteln.

Bundesvorsitzende: "Es wurde geschwiegen, weggesehen"

"Wir sind erschüttert, an wie vielen Stellen es dem BdP in der Vergangenheit nicht gelungen ist, seine Mitglieder vor sexualisierter Gewalt und (Macht-)Missbrauch zu schützen", teilte die BdP-Bundesvorsitzende Annika Schulz mit. "Es wurde geschwiegen, weggesehen." Caspari wird deutlicher: Der Umgang mit Betroffenen sei "von Ignoranz geprägt" gewesen. "Aus den Augen, aus dem Sinn."​​​​​

ribbon Zusammenfassung
  • Eine neue Studie arbeitet sexuelle Missbrauchsfälle bei den Pfadfindern in Deutschland auf.
  • Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) geht von 123 Betroffenen und mindestens 50 Beschuldigten aus.
  • Der Zeitraum von 1976 bis 2006 wurde untersucht.