Italien: “Mama, ich hab Hunger! Bitte schick mir ein Paket”
"Gaia, du hast Post bekommen", sind die ersten Worte, die ihre Mitbewohnerin nach dem Uni-Tag sagt. Das pacco da giù, also das Paket aus dem Süden wartet auf ihrem Bett im schlichten WG-Zimmer. Salami, Burrata, Focaccia, Öl und italienische Nudeln. Auch Badeschaum, Putzmittel und ein Brief sind darin verpackt.
Ein einfacher Karton. Unscheinbar. Darin verbirgt sich ein Stück Heimat. Im Norden Italiens können Lebensmittel, Hygieneartikel und Haushaltsgegenstände bis doppelt so viel kosten wie im Süden. Es lohnt sich, Postgebühren auf sich zu nehmen, um süditalienische Artikel in den Norden zu schicken. Aber es ist nicht nur der finanzielle Aspekt: Päckchen wie diese symbolisieren die soziale Realität: Die emotionale Bindung zwischen Süditalien und dem Rest des Landes.
Migration, aber privilegiert
Gaias Familie lebt in Apulien. Sie schickt ihr Boxen wie diese regelmäßig. Und damit sind sie kein Einzellfall. Ob aus Apulien, Sizilien, Kalabrien oder Kampanien: Für viele junge Italiener:innen, die in den Norden gezogen sind, ist das pacco de giú ein vertrauter Begleiter, der sie an Familie und Tradition erinnert. Das weiß auch Sozialanthropologe Mattia Scaroni, der sich intensiv mit dem Paket Down Under beschäftigt.
"Es ist ein Ausdruck der Migration", erklärt Scaroni. "Auch wenn es eine privilegierte Form der Migration ist."
Anders als Arbeitsmigranten früherer Generationen, migrieren Studierende aus dem Süden oft mit Rückhalt und finanzieller Unterstützung der Familie. Die Gründe dafür haben eine lange Geschichte. Denkt man an die Abwanderung aus dem Süden, fallen einem vielleicht die Jahre des Wirtschaftsbooms von 1945- 1973 ein. Sieht man sich aber Zahlen zum Zuwachs an, zeigt sich, dass es heutzutage viel mehr Bewegung in den Norden gibt. Zum Vergleich: In den 1990er und 2000er-Jahren verließen rund 700.000 Menschen den Süden. In den letzten zwanzig Jahren waren es rund 1 Million Umsiedlungen aus dem Süden in das Zentrum und den Norden des Landes. Tendenz steigend.
"Wegzugehen sollte eine Wahl sein, keine Notwendigkeit", so Scaroni
Gaia, die in Mailand Medizin studiert, drückt das Paket an sich. Es riecht nach dem Parfum ihrer Mama. Sie denkt an die Pasta, die ihre Oma auf ihrem alten Kochtisch jeden Sonntag vorbereitet. An die Garage, in der ihr Onkel jährlich Tomaten züchtet. Heimweh kommt auf. Sie ist jetzt seit 6 Jahren weg von Taranto, ihrem Heimatort. Dieser ist fast 1000 km entfernt von Mailand, also 10 Stunden Autofahrt. Ihr ist bewusst: Sie wird im Norden Italiens bleiben um sich eine vielversprechende Zukunft aufzubauen. Bald ist sie ausgebildete Ärztin. In einem Mailänder Spital hat sie bereits ein Job-Angebot, bei dem sie gut verdienen wird.
Nicht nur die nördlichen Universitäten bieten mehr Möglichkeiten, auch die Jobaussichten unterscheiden sich innerhalb von Italien erheblich. Scaroni sieht hier die Verantwortung in der Regierung. "Die Wirtschaft Süditaliens basiert heute auf dem Tourismus, das ist ein großes Problem. Viele Gebiete, in denen Betroffene aufwachsen, entwickeln sich zu einer touristischen Attraktion. Das ist kein Zuhause", so Scarino.
Herausforderung: Rückkehr
Bei vielen bleibt die Frage, ob sie einmal wieder in die Heimat zurückkehren werden, offen. Denn was bleibt, sei die strukturelle Herausforderung und die Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Italiens.
Gaia packt die hutförmigen Nudeln Orecchiette gleich aus. "Heute gibt es Pasta mit Cima di Rapa, ein Gericht aus meiner Heimat!", ruft sie in das Wohnzimmer der Mailänder Wohngemeinschaft. Es wird geteilt. Zumindest innerhalb der WG soll es keine Grenzen geben.
Disclaimer: Ermöglicht wurde die Reise nach Italien durch das Projekt "Eurotours" des Bundeskanzleramts. Die Kosten für Unterkunft und Anreise wurden übernommen. Im Blog des Projekts gibt es alle Berichte aus den EU- und Balkanländern zu lesen.
Zusammenfassung
- Jährlich migrieren Tausende Süditaliener:innen nach Norditalien, weil sie dort bessere Bildungs- und Jobaussichten haben.
- Das "pacco da giù" ist ein Papppaket mit verschiedenen Gegenständen, das süditalienische Familien ihren Kindern schicken, die nach Norditalien ausgewandert sind.
- Das spiegelt die anhaltende Migration in Italien wider und zeigt, wie stark familiäre Bindungen auch über geografische Distanzen hinweg bestehen bleiben.