Experte: Österreichs Antisemitismus kommt nicht vom Nahost-Konflikt
Stefan Schmid-Heher ist Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule Wien, am Institut für Urban Diversity Education im Arbeitsbereich Politische Bildung. Er forscht zu Antisemitismus bei Jugendlichen und bildet Pädagog:innen im richtigen Umgang damit aus.
PULS 24: Am Wochenende riss eine 17-jährige eine Fahne vom jüdischen Stadttempel in Wien. Auf Video-Aufnahmen war zu hören, dass die beistehenden Jugendlichen Geräusche von Maschinengewehren imitierten. Die Reaktionen auf das Video reichen von "jugendlicher Unsinn", über Entsetzen und "Terrorismus"-Rufe bis zu "Was ist dabei, wenn Jugendliche eine Fahne runterreißen?" Was ist das Problem?
Stefan Schmid-Heher: Wenn man jetzt den Vorfall so zusammenfasst, dass Jugendliche eine Fahne runterreißen, dann ist man entweder nicht in der Lage dazu oder will diesen Vorfall nicht wirklich erfassen.
Es wurde ja keine Fahne einer Brauerei von einem Gasthaus oder eine Österreich-Fahne am Nationalfeiertag von einem Gemeindebau runtergerissen. Es wurde eine israelische Fahne vom Stadttempel runtergerissen - im Kontext eines Terrorangriffs der Hamas gegen Israel. Auch die Andeutungen von Maschinengewehren - in diesem Kontext ist klar, dass hinter dieser Handlung Antisemitismus steckt. Das lässt sich ja gar nicht anders interpretieren.
Wird hier verharmlost, dann könnte man das auch bei anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit tun, z.B. im Zusammenhang mit Rechtsextremismus. Das wird ja auch gemacht, z.B. wenn man von "Lausbubenstreichen" spricht. Vor nicht allzu langer Zeit waren das auch noch beliebte Argumente. Man könnte das ja auch sagen, wenn jemand einen IS-Gruß in einem Video macht, das ist ja "nur ein Fingerzeig". Also weil man die Symbolik und das, was eben zum Ausdruck kommt, durch diese Handlung des Fahnen-Runterreißens einfach wirklich verkennen möchte.
PULS 24: Die 17-Jährige hat bei der Einvernahme durch die Polizei erklärt, sie habe keine hetzerischen Absichten gehabt.
Das ist nicht überraschend – hetzerische Absichten hätten auch weitergehende rechtliche Konsequenzen. Seit dem Angriff auf Israel haben sich die antisemitischen Angriffe verdrei- oder vervierfacht. In Berlin gab es zum Beispiel einen Anschlag auf eine jüdische Einrichtung, in der auch ein Kindergarten war. Drohungen, oder auch in dem Kontext mit dem angedeuteten Maschinengewehr, müssen ernst genommen werden.
In anderen Zusammenhängen tun sich vielleicht auch viele Menschen, die jetzt dieses Fahne-Runterreißen verharmlosen wollen, auch leichter zu erkennen, dass Taten auf Worte folgen.
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Er hat nichts damit zu tun, was Juden konkret tun, und lässt sich auch deshalb in eine Vielzahl von Ideologien integrieren und wirkt als "Welterklärung".
Ein Beispiel dafür ist die Täter-Opfer-Umkehr, wie jetzt in dem Beispiel vor dem Hintergrund des Hamas-Angriffs auf Israel passiert: Wenn die Siedlungspolitik im Westjordanland als Grund gesehen wird bzw. der Terror so erklärt wird. Die Siedlungspolitik im Westjordanland ist ein Problem, ein Problem für den Frieden, auch ein Problem für ein demokratisches Israel aus meiner Sicht zumindest. Aber sie ist keine Ursache, keine Rechtfertigung, keine Legitimation dafür, dass irgendein Mensch bei einem Terrorangriff stirbt.
PULS 24: Sind junge Menschen antisemitischer?
Ich bezweifle, dass vorhergehende Generationen da ein größeres Bewusstsein oder Wissen hatten. Es ist eben die Problemwahrnehmung gestiegen - gesamtgesellschaftliche Probleme werden auch auf junge Menschen projiziert und werden gleichzeitig auch verharmlost, Stichwort "Lausbubenstreich".
Heute ist es überhaupt kein Widerspruch, dass Jugendliche auf der einen Seite Empathie für die Opfer des Holocaust, der Shoah empfinden und gleichzeitig gegenüber Juden und Jüdinnen, jüdischen Einrichtungen oder eben gegenüber Israel als jüdischem Staat offen und unverblümter Hass und Antisemitismus zum Ausdruck bringen. Dieser Widerspruch kann den Eindruck erwecken, dass das jetzt eine ganz neue, auf einmal antisemitische Generation ist. Das würde ich so nicht teilen.
PULS 24: Sind muslimische Jugendliche "antisemitischer"?
Diese Rede vom sogenannten "importierten Antisemitismus" halte ich wirklich für sehr problematisch, weil das eine klare Instrumentalisierung von Antisemitismus ist. Hier wird antimuslimischer Rassismus befördert, gleichzeitig versucht man, sich von seiner eigenen Verantwortung als Mehrheitsgesellschaft zu entlasten. Der eigene Antisemitismus wird so verharmlost, vielleicht auf Einzelfälle von Rechtsextremen beschränkt.
Dennoch ist es wichtig vor diesem Hintergrund auch zu erkennen, dass es schon spezifische Probleme bei muslimischen, muslimisch-sozialisierten Jugendlichen gibt und da auch hinzusehen. Diese Probleme haben aber auch nichts mit der Ausübung der Religion zu tun.
Aus Befragungen wissen wir, dass Jugendliche mit familiärem Migrationshintergrund – auch ohne Bezug zum Islam – in Studien zu Antisemitismus anders antworten - hier kommt auch soziale Erwünschtheit ins Spiel. Wenn man in Österreich oder auch in Deutschland in die Schule geht, lernt man vor dem Hintergrund von Auschwitz, hier "vorsichtig" zu sein. Menschen mit einer Migrationsgeschichte beziehen das weniger auf sich selbst, auf ihre eigene Familie und auf ihre eigenen Großeltern.
Wenn man mit Jugendlichen pädagogisch arbeitet, bringen stereotype Annahmen nichts. Das trifft genauso auf Erwachsene zu. Mit Stereotypisierungen habe ich überhaupt keine Chance, das Ziel zu erreichen, dass sie andere Perspektiven kennenlernen und auch zulassen. Bei all der Tabuisierung wissen viele auch nicht, was sie sagen sollen und gleichzeitig gibt es diese gefühlte Verpflichtung zum Bekenntnis auf politischer Ebene.
Ich meine, denken Sie an den heutigen Innenminister Karner 2007. Es gab da eine Aussage, die auch mit eindeutigen antisemitischen Stereotypen arbeitet. Der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, forderte von Karner bei seiner Angelobung als Innenminister eine Entschuldigung – diese folgte dann auch. Ich nehme an, sie war ernst gemeint, aber ich frage mich nur, ob auch im gleichen Maße wirklich die Auseinandersetzung mit diesen, offenkundig gewordenen antisemitischen Prägungen, wirklich stattgefunden hat. Das habe ich nicht erledigt, indem ich mich bekenne oder mir ein bestimmtes Wissen aneigne.
Diese Bekenntnisse haben für die Gesellschaft eine entlastende und distanzierende Funktion. Wer selbst mit rassistischer Abwertung konfrontiert ist, der hat kein Bedürfnis hier mitzumachen – Folgen davon können sein, dass Provokationen häufiger stattfinden und auch antisemitische Orientierungen einfach offener kommuniziert werden.
PULS 24: Ist Antisemitismus in Österreich ein blinder Fleck?
Österreich ist in europäischen Vergleichsstudien im Spitzenfeld bei Antisemitismus. Die mediale Aufmerksamkeit konzentriert sich auf spektakuläre Einzelfälle. Antisemitismus wird als Randphänomen dargestellt, dass "normale Menschen" so lange nach 1945 nicht mehr betrifft.
Gleichzeitig wird weggeschaut: "Antisemitisches Wissen" ist weit verbreitet - egal wie alt, oder woher, jeder kann antisemitische Stereotype nennen. Und das haben die Menschen nicht in der Schule gelernt, sondern durch Sozialisierung.
Wenn man bei Lehrer:innenfortbildungen fragt, wann man erstmals mit Antisemitismus in Berührung gekommen ist, dann sind das oft Kindheitserlebnisse - da wird dann auch erkannt, dass der Antisemitismus in Österreich auch mit ihnen was zu tun hat und eben nicht nur mit vereinzelten Jihadisten und Neonazis, verkürzt gesagt.
PULS 24: Was braucht es im Bildungsbereich, um gegen Antisemitismus vorzugehen?
Diskriminierungskritische Bildung ist das eine, die Verantwortung von Politik, Bildungsverwaltung und Management das andere. Es braucht ein Vorfallmanagement, bei Vorfällen mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder Ideologien der Ungleichheit - dazu zählt auch Antisemitismus. Das gibt es, wenn ein Schüler ein Drogenproblem hat. Da ist zumindest theoretisch ganz klar, wann Sozialarbeit, Begleitung und Polizei einsetzen.
Diese emotionalisierten Themen sind für die politische Bildung wirklich das Salz in der Suppe. Politische Bildung verkommt in der Schule manchmal zu einer Institutionenkunde, so eine Lehre über Rechte und Pflichten des Staatsbürgers, die einfach keinen Beitrag zu demokratiepolitischen Herausforderungen und Problemen leistet.
Es wäre besser gewesen, den Nahostkonflikt vor vier Wochen zu thematisieren, als vor eineinhalb Wochen.
PULS 24: Auf Social Media wollen viele junge Menschen ihre Solidarität mit den zivilen Opfern der Palästinenser:innen ausdrücken. Oft mit antisemitischen Slogans wie "Free Gaza" oder "From the River to the Sea" und ohne, dass die Sprecherinnen diese als solche erkennen – Wie kann man hier interagieren und intervenieren?
Viele stellen sich Antisemitismus als etwas ganz Außergewöhnliches und Unmenschliches vor – was vor dem Hintergrund von Auschwitz und dem Holocaust verständlich ist. Diese Vorstellung begünstigt die eigene Distanzierung, behindert aber das Erkennen der strukturellen Dimension und die eigene Verstrickung.
Der Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel hatte nur das Ziel, Juden und Jüdinnen zu ermorden. Es gab kein vordergründiges militärisch-strategisches Ziel. Im Hintergrund gab es vielleicht noch eine Blockade dieser Annäherung von Saudi-Arabien und Israel. Aber aus dem Grund alleine ermordet niemand tausend Zivilisten und Zivilistinnen. Und nicht einmal hier wird es geschafft, das als antisemitisch überhaupt zu benennen und wahrzunehmen. Dafür brauche ich nicht die Feinheiten von Antisemitismus wie zum Beispiel der IHRA-Definition oder der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus lange abwägen oder einen 3D-Test.
Die brauche ich nicht, um festzustellen, ob einfach das Ermorden von Juden und Jüdinnen, weil sie Juden und Jüdinnen sind, antisemitisch ist. Oder wenn das als Akt zum Beispiel als legitimer Widerstands dargestellt wird, dann ist das eben kein kognitives Defizit, das nicht als antisemitisch zu erkennen.
In der Schule sollte Antisemitismus klar benannt und zurückgewiesen werden. Aber ich kann nicht davon ausgehen, dass die Zurückweisung in Verbindung mit einer Information alleine nachhaltige Wirkung entfalten wird in Bezug auf ein demokratisches Bewusstsein.
PULS 24: Wie ist das bei Solidaritätsbekundungen mit Palästina?
Antisemitismus stellt im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt ein großes Problem, auch ein Hindernis für Frieden, dar. Für mich ist aus palästinensischer Sicht eine starke Ablehnung des Staates Israels - nicht, dass man deshalb tausend Menschen, tausend Zivilisten und Zivilistinnen ermordet - aber bis zu einem gewissen Grad schon nachvollziehbar.
Anders ist die Situation, wenn zum Beispiel ein türkischer, albanischer oder iranischer Jugendlicher in der Klasse sich selbstverständlich mit den Palästinensern und Palästinenserinnen als vorgestelltes homogenes Volk identifiziert. Das muss man schon auch als eine Wirkung des politischen Islam sehen. Und der ist eine Antwort auf globale Marginalisierung von islamischen Gesellschaften. Da wird viel auf den israelisch-palästinensischen Konflikt projiziert.
Das wurde um 2010 ganz massiv beim türkischen Präsidenten Erdogan sichtbar, der eine sehr anti-israelische und auch antisemitische Positionierungen einnahm, nachdem die israelische Marine zehn Besatzungsmitglieder eines Schiffes, das Hilfsgüter nach Gaza liefern wollte, tötete.
PULS 24: Kann man mit der Zivilbevölkerung in Gaza empathisch ohne antisemitisch zu sein?
Diese Empathie ist notwendig, auch damit antisemitismuskritische Bildung gelingen kann. In einer Schulklasse muss ich z.B. in der Lage sein, strukturellen Rassismus anzuerkennen und als Problem zu benennen. Jemand, der jetzt überhaupt keine Empathie für die Zivilisten und Zivilistinnen in Gaza hat, der hat ja auch ein Rassismusproblem.
Natürlich stellt sich das anders dar, wenn ich jetzt gleichzeitig vielleicht selbst Familienmitglied eines Ermordeten oder einer Ermordeten bin oder wenn ich jetzt in Österreich sitze und keine Familie in Israel habe und nicht von Antisemitismus betroffen bin.
PULS 24: Sind Vergleiche mit dem Apartheid-System in Südafrika oder dem Holocaust Ihrer Meinung nach passende Thematisierungen der Lage in Gaza?
(Palästinenserpräsident, Anm.) Mahmoud Abbas hat bei einem Besuch in Deutschland gesagt, die Palästinenser haben schon 50 Holocausts erlebt. Es gibt nichts aus der Geschichtswissenschaft, womit man diese Aussage irgendwie anders einordnen könnte als revisionistisch. Also den Holocaust verharmlosend, relativierend oder vielleicht sogar leugnend.
Der Holocaust ist nicht das einzige unglaublich schlimme und tragische Verbrechen der Geschichte, aber aufgrund von mehreren Umständen ist schon die große Mehrheit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Meinung, dass es sich um ein singuläres Ereignis handelt. Dass deshalb andere Verbrechen, die mit Kolonialismus zum Beispiel im Zusammenhang stehen, jetzt nur halb so schlimm darstellt werden, darum geht es ja nicht.
Wenn dann Gleichsetzung stattfindet, dann handelt es sich um eine Dämonisierung Israels von Israel als "Kolonialstaat" - und das ist einfach auch historisch nicht haltbar. Die Verwendung von Apartheid im Zusammenhang mit Israel ist falsch und verharmlost die Apartheid in Südafrika.
Eine Geschichte von Vertreibungen kann man jetzt nicht einfach rückgängig machen. Ich finde, das ist eine ahistorische Vorstellung, die man in anderen Konflikten auch nicht thematisiert. Kein ernstzunehmender Mensch in Österreich würde heute Südtirol zurückverlangen.
PULS 24: Zusätzlich zu vielen antisemitischen Übergriffen bietet der Angriff der Hamas auf Israel also auch Nährboden für antimuslimischen Rassismus?
Ja. Und das ist auch deshalb nochmal ein spannender Aspekt, weil rechtsextreme Parteien in Europa, wie die FPÖ oder die AfD, erkannt haben, dass das Feindbild Islam gut zieht, also viel besser geeignet und einfacher zur Selbstdarstellung instrumentalisierbar ist, als das Feindbild Jüdinnen und Juden. Deshalb sind die auf einem sehr proisraelischen Kurs auch umgeschwenkt, ohne ihren eigenen Antisemitismus irgendwie zu bearbeiten oder jetzt wirklich irgendwie gegen Antisemitismus aufzutreten.
Wenn ich Antisemitismus nicht explizit thematisiere, bleibt er unbearbeitet und wirkt oft unerkannt und unbewusst. Und so kommt das dann, dass Leute, denen Diskriminierungskritik in vielen Zusammenhängen ein großes Anliegen ist, dann wirklich auf einmal bei Antisemitismus überhaupt keine Hemmungen mehr haben, weil sie sich so total im Recht und auf der Seite der Schwachen fühlen. Und dann sagen: "Das ist gar nicht antisemitisch, weil ich habe ja nicht gesagt 'die Juden'. Ich habe ja nur gesagt, Israel ist ein Terrorstaat" oder so.
Stefan Schmid-Heher hat unter anderem ein Strategiepapier zur Prävention von Antisemitismus im Bildungsbereich erstellt, das von "Erinnern.at" im Auftrag des Bildungsministeriums erarbeitet wurde.
Zusammenfassung
- Ein antisemitischer Übergriff auf einen Tempel hinterlässt Fragen: Sind die Jugendlichen das Problem, sind es Muslime?
- Antisemitismus in Österreich hat viel mit Tabuisierung, dem Bedürfnis nach Distanzierung und fehlender Reflexion zu tun, sagt Stefan Schmid-Heher von der Pädagogischen Hochschule Wien.