Eurotours Sarajevo, Bosnien und Herzegowina - Soziologin und Professorin Sarina BakićDijana Djordjevic

Bosnien: Politiker "retraumatisieren die Bevölkerung"

In den 90er-Jahren brach im multiethnischen Bosnien und Herzegowina ein blutiger Krieg aus. Es war ein Krieg, in dem vor allem Nationalismus und ethnische Identität eine Schlüsselrolle spielten. Wie gespalten ist die bosnische-herzegowinische Bevölkerung heute, rund 30 Jahre nach dem Krieg?

Im April 1992 brach in Bosnien und Herzegowina ein heftiger Krieg aus. Nach mehreren Jahren blutiger Kämpfe, rund 100.000 Todesopfern, Massakern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde 1995 der Dayton-Vertrag unterzeichnet. Er beendete offiziell den Krieg und sollte Frieden bringen.

Durch den Vertrag wurde das Land aber auch in zwei Landesteile geteilt: die Republika Srpska, in der großteils bosnische Serb:innen wohnen und die Föderation, in der mehrheitlich (muslimische) Bosniak:innen und bosnische Kroat:innen leben. Die staatliche Struktur gilt als eine der kompliziertesten weltweit, die Gesellschaft auch heute noch als tief gespalten.

An der politischen Fakultät der Universität Sarajevo hat PULS 24 vor Ort mit Soziologin und Universitätsprofessorin Sarina Bakić gesprochen. Von ihr wollten wir wissen, ob und wie sehr die Menschen in Bosnien und Herzegowina, rund 30 Jahre nach dem Krieg, tatsächlich noch gespalten sind.

"Gesellschaft durchaus gespalten"

"Ich muss leider sagen, dass die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft durchaus gespalten ist", erzählt sie im Gespräch. Die Menschen seien besonders in Bezug auf ihre nationalen und religiösen Identitäten gespalten, aber auch wenn es um die sexuelle Orientierung, Genderpolitik oder Lebensweise geht.

"Dennoch war es immer so, sowohl nach dem Krieg als auch jetzt, dass die Menschen im Alltag zusammengearbeitet und zusammengelebt haben. Die Menschen leben zusammen und kooperieren miteinander", erklärt Bakić.

Fakultät für Politikwissenschaften der Universität SarajevoDijana Djordjevic

Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Sarajevo

Spaltung: "Politiker retraumatisieren die Bevölkerung"

Dabei spiele die Politik in dieser Spaltung eine Schlüsselrolle. "Die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft ist in einer absurden Situation, in der Politiker:innen hartnäckig versuchen, dieses Land zu teilen, und das schlägt sich natürlich in bestimmten Aspekten auch unter den Menschen nieder", so Bakić.

Die Politik in Bosnien und Herzegowina ist nämlich stark durch Fragmentierung geprägt. Immer noch herrschen fundamental unterschiedliche Vorstellungen von der Staatlichkeit des Landes. So droht zum Beispiel der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, immer wieder mit der Abspaltung des Landesteils vom Gesamtstaat. Auch die bosnokroatischen Parteien sind nicht an einer Stärkung des Gesamtstaates interessiert. Sie wollen eine autonome bosnokroatische Entität, analog zur Republika Srpska.

Dies wird von den führenden bosniakischen Parteien abgelehnt, diese wollen den Gesamtstaat stärken. Durch die unterschiedlichen politischen Vorstellungen der Entitäten sind Kompromisse oft schwer zu erreichen. Im politischen Leben herrscht oft Stagnation.

Milorad Dodik, Präsident der bosnischen Republika SrpskaAPA/APA/SPUTNIK (Archivbild von Besuch in Moskau im Mai 2023)/OLEKSII FILIPPOV

Milorad Dodik, Präsident der bosnischen Republika Srpska

Gerade die politischen Eliten im Land würden ihre Macht in den meisten Fällen darauf gründen, dass sie "Angst vor den Anderen" schüren, betont auch die Soziologin. Den politischen Verantwortlichen wirft sie vor, ständig mit der Angst der Bevölkerung zu spielen. "Die Kriegsvergangenheit kehrt immer wieder zurück, die Traumata kommen immer wieder hoch. Sie retraumatisieren im Grunde die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina", betont die Soziologin.

Neben der Politik gebe es - mit Ausnahmen - viele religiöse Organisationen, die eine "Art Differenzierung" fördern, "die in dieser Gesellschaft absolut unnötig ist", so Bakić. Aber auch viele Medien würden die Spaltung weiter fördern, indem sie solche Narrative nähren, kritisiert sie. Es gebe nur wenige Medien, die tatsächlich kritisch sind.

Anstatt eine gesunde Gesellschaft aufzubauen, retraumatisieren wir unsere Menschen und schaffen eine Gesellschaft voller großer, ernsthafter Frustrationen und Unzufriedenheit.

Soziologin und Universitätsprofessorin Sarina Bakić

Fortschritt statt Rückkehr zur Vergangenheit

Damit sich die Situation in Bosnien und Herzegowina verbessert, müssten sich laut der Soziologin vor allem die politischen Verantwortlichen gemeinsam hinsetzen und sich einigen. Darüber, dass es in Bosnien und Herzegowina niemals wieder Krieg geben darf. Darüber, dass sie am Fortschritt arbeiten, statt einer rückschrittlichen Rückkehr zur Vergangenheit. Und darüber, dass die Entwicklungen in den Bereichen Gesundheit, Justiz, Bildung und Kultur eine Priorität sind.

"Natürlich kann das nicht über Nacht geschehen. Aber Bosnien und Herzegowina hat so viel wertvolle Zeit verloren, dass wir leider eine große Last für die jungen Menschen hinterlassen, die diese Aufgaben ebenfalls übernehmen müssen. Es ist entscheidend, dass die politischen Vertreter einen Konsens finden, wohin wir gemeinsam gehen wollen, was wir von dieser Gesellschaft und diesem Land wollen", Bakić.

Größte "Segregation" an Schulen

Auch müsse man die Bildung reformieren, wo laut Bakić die größte "Segregation" und "Indoktrinierung" zu sehen ist.

So gibt es in Bosnien und Herzegowina das Phänomen "Zwei Schulen unter einem Dach" - eine der negativen Folgen des Krieges. Bei diesem System, das 56 Schulen (Stand 2018) betrifft, werden die Schüler:innen nach Ethnie getrennt und zwar in derselben Schule, aber in verschiedenen Klassenräumen unterrichtet. Sie sind physisch voneinander getrennt und absolvieren zwei verschiedene Lehrpläne, haben unterschiedliche Direktor:innen und Lehrer:innen und zwei zeitlich nicht übereinstimmende Pausen.

In einem Bericht kritisierte die OSZE-Mission in Bosnien und Herzegowina das System als "sichtbarstes Beispiel für Diskriminierung im Bildungswesen". Und auch für die Soziologin ist klar: Das schafft Stereotype und Vorurteile gegenüber den Anderen. "Unsere Kinder wissen nichts über andere, die ebenfalls hier leben", bedauert sie.

Man müsse laut Bakić aber auch "an der politischen, medialen und kulturellen Bildung unserer Menschen arbeiten, die wissen müssen, wie sie sich gegen politische Manipulationen, Lügen und verschiedene Arten politischer Spiele, die nicht zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen, verteidigen können".

Es muss an einer Bildung gearbeitet werden, die Kinder und junge Menschen nicht aufgrund ihrer Unterschiede voneinander trennt, sondern ein Bildungssystem schafft, das sie zu Bürgerinnen und Bürgern von Bosnien und Herzegowina, aber auch zu Bürgerinnen und Bürgern der Welt macht.

Soziologin und Universitätsprofessorin Sarina Bakić

"Kein Hass zwischen den Menschen"

Trotz allem gebe es zwischen den Menschen in Bosnien und Herzegowina ihrer Meinung nach keinen Hass.

"Ich glaube sogar, dass es niemals Hass gegeben hat", betont sie. Es gebe aber ein gewisses Misstrauen gegenüber den "Anderen" und Spannungen, die durch "künstlich induzierte Ängste" vor anderen nationalen und religiösen Identitäten hervorgerufen werden.

"DNA Bosnien und Herzegowinas ist Interkulturalität"

"Es gibt Menschen in allen Teilen Bosniens und Herzegowinas, die schreckliche Prüfungen durchlebt haben, deren Familienmitglieder getötet wurden, und sie haben kein Problem damit, miteinander zu kooperieren. Ein gutes Beispiel sind die 'Mütter von Srebrenica', die gerade diejenigen sind, die sagen: 'Lasst uns zusammen leben'".

"Die jahrhundertealte DNA Bosnien und Herzegowinas ist Interkulturalität", betont sie.

"Wir dürfen nicht auf den Schwindel hereinfallen, dass wir uns hassen oder nicht respektieren. Das tun nur böswillige Menschen. In unserem System, in unserem kulturellen Code ist es genau diese Interkulturalität", betont die Soziologin.

Eurotours Sarajevo, Bosnien und Herzegowina, Dijana DjordjevicDijana Djordjevic

Ermöglicht wurde die Reise nach Bosnien und Herzegowina durch das Projekt "Eurotours" des Bundeskanzleramts. Die Kosten für Unterkunft und Anreise wurden übernommen. Im Blog des Projekts gibt es alle Berichte aus den EU- und Balkanländern zu lesen.

ribbon Zusammenfassung
  • In den 90er-Jahren brach im multiethnischen Bosnien und Herzegowina ein blutiger Krieg aus.
  • Es war ein Krieg, in dem vor allem Nationalismus und ethnische Identität eine Schlüsselrolle spielten.
  • Wie gespalten ist die bosnische-herzegowinische Bevölkerung nun heute, rund 30 Jahre nach dem Krieg?