Knaus für mehr Nationalstaatlichkeit in Migrationspolitik
Immer mehr EU-Staaten würden sich heute klar dafür aussprechen. Zu lange hätten viele Mitgliedsstaaten auf eine "gesamteuropäische Lösung" als Selbstzweck gewartet, kritisiert Knaus. Der Status quo bleibe "zutiefst beunruhigend": weiterhin hohe irreguläre Migration, steigende Zahlen von Toten, systematische Pushbacks an Grenzen und dazu Einigungen wie jene mit Libyen seit 2017, und nun mit Tunesien, Ägypten oder dem Libanon, "die weder gut funktionieren, noch die Zahl der Toten im Mittelmeer nachhaltig reduzieren", so der österreichische Migrationsforscher.
Ein "großer Fehler" der vergangenen Jahre sei gewesen, dass man "jahrelang auf das Paket erneuerter EU-Gesetze" gesetzt habe, von dem zu Recht heute kaum jemand einen Durchbruch erwartet. Die EU sei vor allem eine "Gesetzgebungsmaschine", könne Partnerstaaten aber weder legale Arbeitsmigration noch Stipendien oder Resettlement (Umsiedelung) von Flüchtlingen anbieten. Damit fehlen attraktive Angebote an potenziell sichere Drittstaaten. Das Thema legale Arbeitsmigration sei ausschließlich "Kompetenz der Mitgliedsstaaten", erklärt der Gründer des in Berlin ansässigen ThinkTanks "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI).
Legale Migration für den Arbeitsmarkt und Aufnahme von Flüchtlingen durch Resettlement spielen bei den aktuellen EU-Migrationspartnerschaften mit Libyen oder Tunesien keine Rolle. "Hier wird auf Verhinderung der Abreise gesetzt, durch oft unmenschliche Behandlung, wie in Libyen, oder das Verschleppen und Aussetzen von Migranten in der Wüste, wie in Tunesien", kritisiert Knaus. "Menschenrechtsverletzungen sind Teil des Konzepts", und was nach der Verhinderung des Ablegen der Flüchtlingsboote mit den Menschen passiere, stehe nicht mehr im Fokus der EU.
"Dass wir nach so vielen Jahren der Diskussion 2023 wieder eine steigende Zahl der Überfahren und Tausende Tote im Mittelmeer hatten, zeigt, dass die Migrationspolitik, wie wir sie jetzt haben, gescheitert ist - und das bei anhaltenden Menschenrechtsverletzungen", sagt Knaus zu den zahlreichen gut dokumentierten menschenunwürdigen Praktiken an den EU-Außengrenzen.
Die EU-Türkei-Erklärung von 2016 und das britische Ruanda-Modell hingegen seien Gegenmodelle zum Libyen-Modell, spricht sich Knaus für Abkommen mit sicheren Drittstaaten aus. Dabei hätte die EU ein Eigeninteresse, dass Drittstaaten tatsächlich sicher seien, denn dies sei die Bedingung für eine Einstufung als "sicher" und für das weitere Funktionieren solcher Kooperationen. Rechtliche Voraussetzungen nicht von Anfang an ernst zu nehmen, sei auch der Grund für das Scheitern der Tory-Regierung in London gewesen, so Knaus. Der Schlüssel für das Funktionieren seien "gut vorbereitete Abschiebungen nach einem Stichtag, mit dem Ziel, durch Entmutigung zukünftige Abfahren danach schnell drastisch zu reduzieren" sowie dann menschenwürdige Bedingungen und möglicher Schutz im Drittstaat. Nur dann würden Gerichte in der EU dies zulassen. Ein Erfolg müsse auch mit wenigen Abschiebungen erreicht werden, denn große Zahlen von Migrantinnen und Migranten etwa nach Ruanda zu bringen, erachtet der Migrationsforscher für vollkommen unrealistisch.
Das italienische Albanien-Modell hält Knaus für einen "politischen Bluff". "Es ist zwar kein Bruch mit dem EU-Recht, aber ich bezweifle, dass das Abkommen dazu führt, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen und es weniger Tote im Mittelmeer gibt." Der Schlüssel zur Reduktion von Migration seien die Rückführungen von jenen, die keinen Schutz brauchen, "und ich sehe nicht, wie das erleichtert wird, dass man die Verfahren in Albanien statt in Italien macht", so Knaus.
(Das Interview führte Christina Schwaha/APA)
Zusammenfassung
- Gerald Knaus fordert neue Migrationsabkommen mit sicheren Drittstaaten, um irreguläre Migration zu reduzieren und Menschenrechte zu wahren.
- Er kritisiert die bisherigen EU-Abkommen mit Ländern wie Libyen und Tunesien als ineffektiv und menschenrechtsverletzend, was zu zahlreichen Toten im Mittelmeer geführt hat.
- Knaus sieht die EU als eine Gesetzgebungsmaschine, die keine attraktiven Angebote an Drittstaaten machen kann, und fordert gut vorbereitete Abschiebungen nach einem Stichtag, um zukünftige Abreisen zu entmutigen.