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Expertin erwartet mehr Obdachlose durch Inflation

Die BAWO-Obfrau und Geschäftsführerin des neunerhaus, Elisabeth Hammer, rechnet mit einem Anstieg der Wohnungs- und Obdachlosenzahlen. Die momentanen Teuerungen treffen auf eine ohnehin schwierige Situation im Bereich des leistbaren Wohnraums. Durch die Inflation betrifft dieser nun auch große Teile der "Mittelschicht". Hammer spricht aber auch von einem "Wind of Opportunity": Für Maßnahmen, für die schon lange Zeit sei, gäbe es jetzt die gesellschaftliche Unterstützung.

"Die Dynamik dieser Teuerungswelle hat auch mich überrascht", sagte Hammer im Gespräch mit der APA. Diese trifft auf eine Situation am Wohnungsmarkt, die bereits vor der Pandemie nicht einfach war. Zu gering sei das Segment der günstigsten Wohnungen. Dieses werde durch die gestiegenen Preise nun aber für immer mehr Menschen relevant, da auch große Teile der "Mittelschicht" Probleme hätten, ihre Miete und ihre Energierechnungen zu bezahlen.

Das neunerhaus betreut seit vielen Jahren Wohnungs- und Obdachlose sowie Menschen in Krisensituationen. Derzeit sei die größte Sorge der Betroffenen, den Lebensmitteleinkauf nicht mehr bezahlen zu können. "Das setzt die Menschen unter Druck. Bereits während der Pandemie litten Armutsbetroffene unter besonderer psychischer Belastung, diese wird durch die Teuerung weiter befeuert", befürchtet Hammer. "Die gestiegenen Preise nehmen den Menschen ein Stück ihrer Selbstbestimmung und das Gefühl, das eigene Leben im Griff zu haben. Und da sprechen wir noch gar nicht davon, dass die Teuerung im Fall des Falles existenziell bedrohlich sein kann".

Dieser Punkt ist in vielen Fällen erreicht, wenn die Energie-Jahresabrechnung kommt. "Derzeit ist das der Punkt, wo es sich für viele Menschen nicht mehr ausgeht". Das neunerhaus versuche dann zu helfen, der Fokus liege dabei auf mittel- und längerfristiger Unterstützung. Manchmal reiche eine Ratenzahlung, manchmal führe aber auch nichts am Umzug in eine günstigere Wohnung vorbei.

Derzeit merke man noch keine Steigerung der Obdachlosenzahlen, sie werde aber kommen: "Wir wissen, die Welle kommt, aber sie ist noch nicht da", ist sich Hammer sicher. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 nahm die Zahl der Obdachlosen in den darauffolgenden fünf Jahren um ein Drittel zu. Hammer sieht keinen Grund, in der aktuellen Situation etwas anderes zu erwarten. Rund 23.000 Menschen sind momentan in Österreich obdachlos.

Der vorhandene "Wohnschirm" sei eine wichtige Maßnahme, um Menschen vor der Delogierung zu retten, er alleine reiche aber nicht. Die Entlastungspakete seien oft zu "panisch und unüberlegt". Anstatt der "Gießkanne" in Form von Einmalzahlungen wünsche sich Hammer wie viele andere strukturelle Änderungen. Im Bereich des leistbaren Wohnens gäbe es schon seit Jahren viel zu tun, die aktuelle Teuerung hätte auch bei der Breite der Gesellschaft das Bewusstsein geschaffen, sagte Hammer. Sie hoffe darauf, dass jetzt auch der politische Wille da sei. Der Ausbau des gemeinnützigen Wohnens, keine Veräußerungen des kommunalen Wohnbaus und Maßnahmen im Privatmietbereich wie eine Deckelung der Mieten könnten das preisgünstigste Segment des Wohnungsmarktes vergrößern.

Unter den aktuellen Maßnahmen seien auch nützliche dabei, die Situation sei aber unübersichtlich. "Wir müssen uns als Sozialorganisationen nach der Decke strecken, um zum richtigen Zeitpunkt alle Maßnahmen zu kennen". Hammer wünsche sich möglichst einfache allgemeingültige Regelungen statt Einzelmaßnahmen "jede zweite Woche".

Ein "Paradigmenwechsel" in der Wohnungslosenhilfe sei das Konzept "housing first", das das neunerhaus vor zehn Jahren gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien nach Österreich gebracht hat. Dabei gilt eine eigene Wohnung als oberstes und vor allem erstes Ziel. Anstatt Menschen, die lange obdachlos waren, langsam wieder an das "Mieten" heranzuführen, sollen sie es möglichst schnell zu einer eigenen Wohnung schaffen. Die obdachlosen Personen werden dabei vor und nach dem Einzug in die Wohnung betreut. Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen versuchen eine leistbare Wohnung zu finden, denn zahlen müssen die Mieter von Anfang an selbst. "Sie ziehen mit eigenem Mietvertrag, aber auch mit eigenen Pflichten ein".

92 Prozent der Personen, die über "housing first" eine Wohnung erhalten haben, bleiben in dieser auch nach Ende der im Schnitt 20-monatigen Betreuung. "Man braucht mittlerweile wirklich nicht mehr über Zwischenlösungen sprechen", so Hammer. "Housing first" stelle auch veraltete Bilder von Obdachlosigkeit und einen oftmals paternalistischen Umgang damit in den Hintergrund, betonte Hammer. In den letzten zehn Jahren konnte so 523 Menschen eine Wohnung vermittelt werden.

Österreich hat sich im Rahmen einer EU-Deklaration zur kompletten Beendigung von Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 verpflichtet. Das sei ein "ambitioniertes Ziel", so Hammer. Die BAWO fordere eine an die "Lissabon-Deklaration" angelehnte nationale Strategie. Einige Staaten würden bereits an einem derartigen Plan arbeiten. "Österreich täte gut daran, hier vorne dabei zu sein".

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  • Die BAWO-Obfrau und Geschäftsführerin des neunerhaus, Elisabeth Hammer, rechnet mit einem Anstieg der Wohnungs- und Obdachlosenzahlen. Die momentanen Teuerungen treffen auf eine ohnehin schwierige Situation im Bereich des leistbaren Wohnraums. Durch die Inflation betrifft dieser nun auch große Teile der "Mittelschicht". Hammer spricht aber auch von einem "Wind of Opportunity": Für Maßnahmen, für die schon lange Zeit sei, gäbe es jetzt die gesellschaftliche Unterstützung.