Neue Bücher: Gstreins Poetik und Lazars Tagebuchroman
Ein "großer Mathematiker" wollte er werden, doch das auf zwei Jahre angelegte Dissertationsstudium in Grenoble brach er nach vier Tagen ab. Was ihn dazu gebracht habe, könne er bis heute nicht sagen, erzählt Norbert Gstrein, aber an den Moment der Entscheidung, beim Blick aus dem Studentenheim, könne er sich genau erinnert. "Jedenfalls wurde ich plötzlich von einer solchen Verlorenheit erfasst, dass ich noch am selben Nachmittag meine Sachen packte und nach Hause fuhr." Inzwischen sei er "leider weit weg von aller Mathematik, untrainiert wie ein Zehntausendmeterläufer, dem nach zweihundert Metern die Luft ausgeht". Geschichten wie diese hat der seit langem in Hamburg lebende Tiroler Autor in seinen im Vorjahr in Göttingen gehaltenen Lichtenberg-Poetikvorlesungen erzählt.
In dem Band "Mehr als nur ein Fremder" sind diese Vorlesungen erstmals abgedruckt, an der Seite mit Reden, Nachworten und anderen Beiträgen, in denen der u.a. mit dem Österreichischen Buchpreis Ausgezeichnete über seine Schreib- und Leseerfahrungen reflektiert und über sein Leben berichtet. Fremdheit, das ist eine der Erfahrungen, die ihn geprägt haben, auch in den USA: Der titelgebende Aufsatz der Sammlung beschäftigt sich mit William Faulkner und dem amerikanischen Rassismus.
(Norbert Gstrein: "Mehr als nur ein Fremder", Hanser, 192 Seiten, 24,70 Euro, ISBN 978-3-446-27665-9)
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Tagebuchroman von Maria Lazar
Die Wiederentdeckung von Maria Lazar (1895-1948) schreitet voran. In seinem Nachwort zu ihrem Roman "Viermal ich" schildert der junge Germanist Albert C. Eibl, wie er vor neun Jahren ("Der Sommer 2014 senkte sich bereits verheißungsvoll-gleißend über Wien...") mit der Neuausgabe von Lazars expressionistischem Debütroman "Die Vergiftung" auch das Debüt seines neu gegründeten Verlags Das vergessene Buch feierte. Einige aufsehenerregende Theater- und Bucherfolge später liegt nun ihr zweiter, Ende der 1920er in Wien entstandener Roman "Viermal ich" vor. Genau genommen ist es kein vergessenes, sondern ein noch nie zuvor erschienenes Buch, denn die Autorin bot das Manuskript einigen Verlagen vergeblich an. Eibl konnte im September 2022 Lazars Nachlass in Großbritannien sichten - und entdeckte neben vielen anderen noch unveröffentlichten Manuskripten auch dieses.
Ein Meisterwerk, das es für die Ewigkeit zu bewahren gilt, ist dieser Tagebuchroman einer jungen Frau freilich nicht. Es eine fiebrig abgelegte Lebensbeichte, unstet, voller Brüche und Übertreibungen, mitunter schwülstig wie das Cover, das vier nackte junge Frauen zeigt. Ja, es geht tatsächlich auch um Sex, vor allem aber um Selbstfindung, um das Hadern mit dem sozialen Status von Frauen, die sich Männern unterzuordnen haben, um sehr viel mädchenhafte Unreife. "Gut, dass diese Seiten schließlich doch nur von mir gelesen werden. Es ist eine Schande, was ich da zusammenkritzle. Geradezu lächerlich", heißt es einmal kokett.
Die sich als unscheinbar erlebende Erzählerin, die nach der Matura Bibliothekarin wird, durchlebt heiße Liebschaften und unangenehme Zudringlichkeiten, bei denen ihr Onkel, ihr Vorgesetzter und der Bruder einer Freundin tragende Rollen spielen. Die drei Freundinnen Grete, Ulla und Anette sind ständige Bezugs- und Vergleichspunkte - während die immer wieder auftauchende Figur der "Fremden" als Spiegelbild, Projektion und Abspaltung dient. All das vermischt sich zu einer Abfolge von Reflexionen und Fantasien, aus denen die Erzählerin ein Fazit zieht: "Es ist ein Unsinn, dass man nicht bereits in der Schule lernt, wie es mit Frauen steht."
(Maria Lazar: "Viermal ich", Verlag Das Vergessene Buch, Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Albert C. Eibl. 224 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-903244-26-9)
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Psychiater Leonhard Thun-Hohenstein über "Kinder und Resilienz"
Auch wenn Corona nach langer Zeit aus den Schlagzeilen und auch aus den Köpfen verschwunden ist, sind die Wartelisten für psychische Hilfe immer noch lange. Besonders betroffen waren Jugendliche, weil sich diese in einer sensiblen Entwicklungsphase befinden. Im Buch "Kinder und Resilienz" zeigt der Salzburger Kinder- und Jugendpsychiater Leonhard Thun-Hohenstein Möglichkeiten auf, wie junge Menschen mit dem nötigen Rüstzeug zur Krisenbewältigung ausgestattet werden können.
Viele Kinder und Jugendliche hätten wegen der großen allgemeinen Krisen der vergangenen drei Jahren auch persönliche Krisen erlebt. "Die psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen haben deutlich zugenommen, was zu langen Wartezeiten in den Ambulanzen und Praxen der behandelnden Professionen führt", schreibt der Arzt. Zum besseren Verständnis beschreibt er zunächst die verschiedenen Phasen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Ausführlich werden dann die unterschiedlichen Formen von Krisen und deren Entstehung erklärt und diese auch als Chance auf eine sinnvolle und positive Veränderung dargestellt. Danach zeigt der Autor die Faktoren auf, die für die Bildung von Resilienz entscheidend sind, und stellt Möglichkeiten zur Krisenbewältigung dar.
(Leonhard Thun-Hohenstein: "Kinder und Resilienz - Was Krisen mit unseren Kindern machen und wie wir sie davor schützen können", ecoWing Verlag, 272 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783711003249)
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Zusammenfassung
- (Norbert Gstrein: "Mehr als nur ein Fremder", Hanser, 192 Seiten, 24,70 Euro, ISBN 978-3-446-27665-9)
- Viele Kinder und Jugendliche hätten wegen der großen allgemeinen Krisen der vergangenen drei Jahren auch persönliche Krisen erlebt.
- (Leonhard Thun-Hohenstein: "Kinder und Resilienz - Was Krisen mit unseren Kindern machen und wie wir sie davor schützen können", ecoWing Verlag, 272 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783711003249)