Gitarren-Ass Tash Sultana zeigt Popstar-Potenzial
"Terra Firma", der Nachfolger des solo eingespielten, bereits sehr erfolgreichen Indie-Debüts "Flow State" (2018), stellt einen solchen Qualitätssprung bei Songwriting und Arrangements dar, dass man spontan an den jungen Prince der frühen 80er denken muss. Statt der vor drei Jahren noch etwas ungeschliffenen Jams mit wild-euphorischen Gitarrensoli sind auf "Terra Firma" nun 14 Lieder zu hören, die Sultanas Ruf als rasant reifendes Riesentalent bestätigen.
Eine bequeme Genre- oder Stil-Schublade gibt es - trotz der nun verstärkten Einflüsse von Soul, Hip-Hop und sogar Jazz - eigentlich nicht für diese harmonisch fließenden Songs, an denen noch der Singer-Songwriter Matt Corby, Produzent Dann Hume und einige wenige Gastmusiker beteiligt waren. Sultanas Einschätzung der "Terra Firma"-Mixtur lautet so: "Aretha Franklin trifft auf Bon Iver trifft auf John Mayer trifft auf wen auch immer." Letztlich steckt aber zum Glück ganz viel und vor allem Tash Sultana in allen Songs.
Auch eine Gender-Zuordnung (Stichwort: weibliche Gitarrenhelden, siehe oben) verbietet sich übrigens: 1995 als Natasha Sultana in Melbourne geboren, bezeichnet sich das australische Pop-Wunder seit einiger Zeit als "nicht-binär". Sultana möchte laut "L-Mag"-Interview von 2018 nicht als Frau oder Mann definiert werden: "Seit ich denken kann, habe ich das Gefühl, im falschen Körper zu stecken. (...) Mein Geist, meine Seele und jeder Teil meiner Persönlichkeit, alles was ich tue, ist nicht weiblich – sondern männlich." Die Selbstbezeichnung als nicht-binär sei "meine Art, das zu zeigen".
Sultana gab in dem Gespräch vor drei Jahren zugleich Unsicherheit darüber zu erkennen, dass eine mögliche Geschlechtsanpassung "auch meine Art zu singen verändern würde". Songs wie das lässige Jazzpop-Stück "Crop Circles", das funkige "Blame It On Society" oder die Balladen "Maybe You've Changed" und "Let The Light In" zeigen nun, dass sich diese junge Stimme wenn, dann im bestmöglichen Sinne entwickelt hat: Sie fasziniert mit Wärme, Gefühl und Kraft, ihre Spannweite reicht mühelos vom Alt bis ins Falsett.
Das am Freitag erscheinende, zweite Studioalbum "Terra Firma" ist also auch eine vokale Offenbarung, mit Anklängen an Billie Eilish, Sinead O'Connor, Kate Bush oder den schon erwähnten androgynen Meistersänger Prince. An der E-Gitarre bleibt Sultana sowieso eine Klasse für sich. Obwohl diese Kunstfertigkeit diesmal nicht so offensiv zur Schau gestellt wird wie auf "Flow State" (was manche frühe Fans der "One-Person-Band" mit der coolen Basecap ernüchtern mag). Die flirrenden Sechssaiter-Sounds etwa im Instrumental-Opener "Musk", in "Coma" oder "I Am Free" dürften aber auch konservativere Gitarrenriff-Gourmets faszinieren.
Tash Sultana ist mit Straßenmusik in Melbourne gestartet, hat sich selbst zusätzlich an der Loop-Station und etlichen Instrumenten ausgebildet, kann auf Millionen Gefolgsleute in den sozialen Netzwerken zählen, gilt als Youtube-Phänomen und Livesensation. Das Ziel von "Terra Firma" war gleichwohl hochgesteckt: "Ich wollte mich einfach besser fühlen, besser sein, besser performen, besser spielen, besser singen." Hat funktioniert. In der Heimat Australien ziert Sultana demnächst das begehrte Cover des "Rolling Stone"-Magazins.
Ob sich die für August/September auch in Deutschland und Österreich angesetzten Open-Air-Termine trotz Corona halten lassen, muss sich erst noch zeigen - schön wär's ja. Der mitreißende neue Song "Pretty Lady", dessen Video tanzende Sultana-Fans im globalen Lockdown zeigt, hört sich jedenfalls schon jetzt, mitten im Winter, nach einem perfekten Sommerhit fürs große Publikum an.
(S E R V I C E - www.tashsultana.com)
Zusammenfassung
- Elektrisch verstärkte Gitarrenmusik ist meist selbstverliebt, machohaft und eigentlich mausetot? Es gibt nach den breitbeinigen Männern von damals keine jungen, innovativen Virtuosen mehr an den sechs Saiten? Beide Fragen lassen sich klar mit Nein beantworten - wenn man auf Frauen wie die Britin Anna Calvi oder die US-Amerikanerin Annie Clark alias St. Vincent schaut. Oder jetzt auf Tash Sultana mit einem über schnöden Gitarrenrock weit hinausgehenden neuen Album.