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Umweltchemiker Burtscher-Schaden fordert Pestizidreduktion

Landwirtschaft gegen Umweltschutz - in der EU ist ein alter Konflikt, der längst überwunden geglaubt schien, rund um den angesichts von Artensterben und Klimawandel eigentlich außer Streit gestellten "Green Deal" der EU-Kommission wieder aufgeflammt. "Die Argumente sind dabei die gleichen wie vor 15 Jahren", sagt Helmut Burtscher-Schaden. Als promovierter Biochemiker war er in der wissenschaftlichen Forschung, als Aktivist und NGO-Mitarbeiter kämpft er heute gegen Pestizide.

"Ein Aspekt ist mir wichtig: Wir als Gesellschaft haben nie die bewusste Entscheidung getroffen, die landwirtschaftliche Produktion unserer Lebensmittel von Chemie abhängig zu machen", sagt der gebürtige Vorarlberger im APA-Interview in Brüssel. "Dass wir in so einem System gelandet sind, hat aber eine lange Geschichte und ist durchaus nachvollziehbar." Schon im alten Ägypten habe man nach Mittel und Wegen gesucht, Pflanzenschädlinge auszuschalten. Damals wurden etwa Chrysanthemen dafür herangezogen. Die Blüten der Blume enthalten nämlich Pyrethrine, Wirkstoffe mit insektizider Wirkung etwa gegen Blattläuse, Spinnmilben und Käfer-Larven.

Auch natürlich vorkommende Fungizide wie Kupferverbindungen- und Schwefel würden seit langem gegen Pilzbefall verwendet. Einschneidend sei aber die Bekämpfung der Reblaus gewesen, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Weinbau in ganz Europa bedroht habe. Es sei fieberhaft nach einem wirksamen Insektizid gegen diesen Schädling gesucht worden. Dabei hätte sich etwa die "Bordeauxbrühe", eine Kupferkalklösung, als sehr effektiv für die Bekämpfung des Falschen Mehltau bei Weinstöcken herausgestellt, jedoch als untauglich gegen den aus Amerika eingeschleppten Schädling. Die Reblaus wurde schließlich biologisch besiegt - durch resistente amerikanische Rebsorten, die als Unterlage verwendet wurden. "Hätte die Industrie früher eine chemische Lösung gefunden, bin ich sicher, dass wir seit damals gegen die Reblaus Gift spritzen würden."

Als Wundermittel sei dann nach dem Zweiten Weltkrieg DDT angepriesen worden. Die langfristigen Folgen des breit eingesetzten Insektizides seien erst allmählich festgestellt worden. 1962 erschien das Buch "Der stumme Frühling", in dem die US-Biologin Rachel Carson neben vielen anderen schädlichen Auswirkungen auch auf gravierendes Vogelsterben hinwies - u.a. die Folge dünnerer Eierschalen. "Schon damals hätte man wissen müssen, dass man auf einem falschen Weg ist." Die vermeintliche Allzweckwaffe im Ackerbau erwies sich aber nicht nur als deutlich folgenreicher, sondern auch als haltbarer: "Dass unserer Großeltern DDT zum Frühstück auf dem Teller hatten, hat noch heute Folgen für den Gesundheitszustand der Gesellschaft."

In den 1960ern seien Pyrethroide eingesetzt worden, synthetische Insektizide, die als neue Wundermittel angepriesen wurden und in den winzigsten Dosen wirksam waren. "Das sind extrem toxische Stoffe, von denen viele heute zum Glück verboten sind. Als das Beste, das es überhaupt gibt, wurden dann ab den 1990er-Jahren die Neonicotinoide angepriesen", gelangt Burtscher-Schaden in seinem kurzen historischen Pestizid-Exkurs in die Gegenwart. Auch hier hätten sich die Versprechen der Industrie bald als falsch herausgestellt. Am stärksten betroffen erwiesen sich ausgerechnet die Bienen - was zuvor glatt in Abrede gestellt wurde und die gesamte Nahrungskette gefährdet. "Die Bienen sind der Schlüssel. Ein Drittel unserer Nahrung benötigt Bestäuber", sagt der Biochemiker, der einer der Mitinitiatoren der Europäischen Bürgerinitiativen "Stopp Glyphosat" und "Bienen und Bauern retten" ist. "Als 2013 die ersten EU-weiten Verbote für Neonicotinoide kamen, hat Österreich leider als Speerspitze einer kleiner Gruppe von Staaten fungiert, die das Verbot, das nicht mehr zu verhindern war, aufzuhalten versuchten."

Seit 2001 beschäftigt sich der Biochemiker bei der Umweltschutzorganisation Global 2000 mit dem Thema und weiß heute: Überall, wo Pestizide eingesetzt werden, ist derselbe Teufelskreis feststellbar. Einerseits hätten sich die eingesetzten Mittel fast immer als schädlicher für Umwelt oder Gesundheit herausgestellt als ursprünglich angenommen, andererseits würden sich häufig Resistenzen herausbilden. "Dann müssen natürlich wieder mehr Pestizide eingesetzt werden." Die Geschwindigkeit bei der Entwicklung neuer Techniken von der Gentechnik bis zur Künstlichen Intelligenz, habe enorm zugenommen, so Burtscher-Schaden, Zeit für eine ausreichende Risikoabschätzung bleibe kaum mehr. "Wir wären gut beraten, dabei als Gesellschaft einen Gang zurückzuschalten."

Gerade im Bereich der Landwirtschaft gebe es ein großes Spektrum an Möglichkeiten, bei der Sicherung von Erträgen mit der Natur und nicht gegen die Natur zu arbeiten, sagt der Umweltchemiker, der lieber von "Beikräutern" als von "Unkräutern" spricht, um deutlich zu machen, dass es für jede Pflanze Sinn und Platz im Ökosystem gebe. Das andere System, nämlich das der agrarchemischen Industrie, sieht er dagegen in einer Sackgasse angelangt. "Es gibt nicht mehr viele neue Wirkstoffe, die man auf den Markt bringen kann." Nicht von Ungefähr seien jene Unternehmen, die über Jahrzehnte mit Pestiziden Milliardenumsätze verzeichnet hatten, meist dieselben, die nun Neue Gentechnik propagierten.

"Indem die Chemie dominant wurde, hat man ganze Landschaften verändert", verweist Burtscher-Schaden auf von Monokulturen geschaffene "Agrarwüsten" als Symbol für einen Irrweg, der von der Politik massiv gefördert wurde. Diese unheilvolle Allianz von Agrarlobby und Politik sei seiner Meinung nach auch verantwortlich dafür, dass in der Diskussion um Renaturierung und Pestizidreduktion auf EU-Ebene derzeit Narrative forciert würden, die ausschließlich aus der Industrielogik kämen. "Denn für die Landwirte gibt es eigentlich keinen wirklichen Grund, das Modell, das sie so sehr in Abhängigkeit hält, mit derartiger Vehemenz zu verteidigen."

Neben dem von der EVP heftig bekämpften EU-Renaturierungsgesetz ist auch die Sustainable Use Regulation (SUR), die eine deutliche Reduzierung des Pestizideinsatzes erreichen soll, in die Schusslinie geraten. Der für den Erfolg der Pestizidreduktion entscheidende "verpflichtende Integrierte Pflanzenschutz" sei im Rat zu einer freiwilligen Maßnahme verwässert worden, erklärt Burtscher-Schaden mit Hinweis auf durchgesickerte Ratsdokumente. "Ich bin ein unheimlicher Fan der SUR. Dabei aber den Integrierten Pflanzenschutz über Bord zu werfen, der bei der Schädlingsbekämpfung viele Maßnahmen vorschlägt und nur in wenigen Fällen, wenn alles andere nicht hilft, den Pestizideinsatz zulässt, wäre fahrlässig."

Burtscher-Schaden hofft, dass im Europaparlament, wo Sarah Wiener als Berichterstatterin im Umweltausschuss Verbesserungen des Kommissionsvorschlags erreicht habe, keine derartigen Aufweichungen vorgenommen werden. Statt einer Aufweichung brauche es vielmehr verbindliche Vorgaben, denn obwohl die EU seit drei Jahrzehnten erklärt, den Pestizideinsatz reduzieren zu wollen, und der Integrierte Pflanzenschutz bereits seit 2009 verpflichtend vorgeschrieben ist, sei die Intensität des Pestizideinsatzes weiter gestiegen. "Die Mitgliedsstaaten haben gesetzliche Vorgaben einfach nicht umgesetzt."

ribbon Zusammenfassung
  • "Die Argumente sind dabei die gleichen wie vor 15 Jahren", sagt Helmut Burtscher-Schaden.
  • Als promovierter Biochemiker war er in der wissenschaftlichen Forschung, als Aktivist und NGO-Mitarbeiter kämpft er heute gegen Pestizide.
  • Die langfristigen Folgen des breit eingesetzten Insektizides seien erst allmählich festgestellt worden.
  • Auch hier hätten sich die Versprechen der Industrie bald als falsch herausgestellt.