Mindestsicherung: "Niemand steht schlechter da"
Immer wieder sorgt die Mindestsicherung in Wien für Debatten – darüber, ob diese nicht ein Anreiz für viele sei, gar nicht erst arbeiten zu gehen. Aufgeflammt ist diese Diskussion wieder einmal, als der Fall einer neunköpfigen syrischen Familie bekannt wurde, die laut der "Heute" 4.600 Euro pro Monat an Mindestsicherung erhält.
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Kritik kam schnell von den Blauen. Während die Österreicher unter einer Teuerung leiden und jeden Euro dreimal umdrehen, "kassieren Asylanten für Nichtstun 4.600 Euro pro Monat", schrieb FPÖ-Chef Herbert Kickl auf Facebook. Ist die Höhe der Sozialhilfe, die Großfamilien erhalten, gerechtfertigt und notwendig, um ihre Lebenskosten zu decken? Oder ist das System der Wiener Mindestsicherung problematisch?
"Laut Genfer Flüchtlingskonvention sind asylberechtigte Menschen den Staatsbürger:innen im jeweiligen Zielland gleichzustellen, also das was jetzt auf diese syrische Familie zutrifft - Bezug von Sozialleistungen und Familienbeihilfe - würde genauso auf eine österreichische Familie zutreffen", erklärt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im PULS 24 Interview.
"Familie trotz Mindestsicherung armutsgefährdet"
Konkret erhält die betreffende Familie jeweils 809,09 Euro pro Erwachsenem plus insgesamt 102,02 Euro Kinderzuschlag pro Monat. Dazu kommen 312,08 Euro pro Kind, anspruchsberechtigt sind sie für sechs Kinder. Rechnet man noch gut 1.000 Euro Mietbeihilfe dazu, die die Familie erhält, kommt man auf die 4.600 Euro, so der ORF Wien.
"Die Summe relativiert sich im Verhältnis zur Haushaltsgröße", betont die Volkshilfe auf Twitter (inzwischen "X"). Bei einer Familie mit sieben Kindern, vier davon unter 14 und drei über 14, liege die Armutsschwelle bei 6.603 Euro. Die Familie sei trotz der 4.600 Euro Mindestsicherung armutsgefährdet.
Die Volkshilfe gibt auch ein Referenzbudget an: Ein Paar mit vier Kindern brauche laut Schuldenberatung bei einem bescheidenen Lebensstil 5.858 Euro pro Monat. Auch in diesem Vergleich liege die neunköpfige syrische Familie weit darunter. Von "Saus und Braus" könne keine Rede sein.
https://twitter.com/volkshilfe/status/1818931273257083271
"Besondere" Situation in Wien
Der wohl größte Kritikpunkt bei der Wiener Mindestsicherung ist, dass die Höhe mit der Zahl der Kinder steigt – ohne Begrenzung. Aber ist das Anreiz dazu, gar nicht erst arbeiten zu gehen?
In Österreich gebe es ein sehr hohes Niveau an Sozialleistungen – das höchste in Europa, erklärt Sozialwissenschafter Franz Prettenthaler von der Joanneum-Research-Forschungsgesellschaft im PULS 24 Interview. Ob dieses Niveau zu hoch ist, unterliege der politischen Einschätzung.
Wien habe "durch die besonders großzügige Regelung bei der Mindestsicherung" schon eine "besondere Situation", da die Kinderkosten für vier Kinder nicht doppelt so hoch sind wie für zwei Kinder, erklärt Prettenthaler. Insofern sei diese Regelung in Wien natürlich "eher ein Anreiz dafür, mehr Kinder zu bekommen und nicht unbedingt mehr arbeiten zu gehen", meint der Sozialwissenschaftler.
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"Niemand steht schlechter da"
Eine Familie in Wien müsste ungefähr 5.000 Euro brutto im Monat an Erwerbseinkommen verdienen, damit sie so viel Geld zum Leben haben wie mit der Mindestsicherung. Das mittlere Einkommen in Österreich liegt aber bei rund 2.500 Euro brutto pro Person. In einer Studie hat Prettenthaler mit seiner Kollegin Judith Köberl tausende Haushaltskonstellationen untersucht, darunter auch folgendes Fallbeispiel:
Unter der Annahme, dass in einer Wiener Großfamilie nur ein Elternteil arbeitet und ein Einkommen von 2.500 Euro brutto hat, bedeute das, dass diese Familie ungefähr 200 Euro mehr zur Verfügung hat, als die Familie, die gar nicht arbeitet.
"Das heißt, die ganzen Unterstützungen stehen auch dieser Familie zu, nur in einem geringeren Ausmaß", meint Prettenthaler.
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Das, was durch die eigene Arbeit erwirtschaftet wird, wird durch die Sozialleistungen, insbesondere der Mindestsicherung, aber unter anderem auch der Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag, "aufgefüllt".
"Insofern steht niemand schlechter da, außer dass er natürlich arbeiten muss dafür", so der Sozialwissenschaftler. Wie Prettenthalers Zahlen zeigen, würde man erst mit einem Einkommen von 6.000 bis 7.000 Euro pro Monat durch Arbeit deutlich besser abschneiden als mit der Mindestsicherung.
Mindestsicherung: Nur in zehn Familien wird nicht gearbeitet
Trotzdem ist wichtig zu betonen: Laut der Auflistung von Wiener Stadtrat Peter Hacker gebe es aktuell 120 Familien mit sieben Kindern in Wien, die Mindestsicherung erhalten. 110 haben nebenbei auch ein Erwerbseinkommen. Lediglich in zehn Familien werde gar nicht gearbeitet.
Das Kernproblem sei laut Hacker eigentlich, dass "es zu viele Menschen gibt, die in prekären Jobs arbeiten". Ein Problem mit dem fehlenden Arbeitsanreiz gebe es laut Hacker nicht.
Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialausgaben in Österreich auf insgesamt rund 136 Milliarden Euro. Rund 974 Millionen Euro davon wurden 2022 laut Statistik Austria für die Mindestsicherung ausgegeben. Das entspricht 0,7 Prozent.
Zusammenfassung
- Wieder einmal steht die Wiener Mindestsicherung in der Kritik, als der Fall einer neunköpfigen Familie bekannt wurde, die 4.600 Euro Mindestsicherung erhält.
- Ist die Höhe der Sozialleistungen in Österreich so hoch, dass der Anreiz zu Arbeiten verloren geht?