Im Schatten der Müllberge: Die Slowakei und ihre Roma
"Bitte mach keine Fotos von den Kindern, wir hatten schlechte Erfahrungen mit Medien in der Vergangenheit", sagt Petra Kurutzová von der NGO ETP. Und tatsächlich: eine Google-Suche nach Luník IX, einem Wohnviertel in der slowakischen Stadt Košice, zeigt Resultate, wie "verrufenstes Roma-Viertel der Slowakei", "größtes Roma-Slum der Welt", "Europas gefürchtetstes Nachbarschaft", "Ghetto".
Viele Menschen, wenig Platz
Der Bus nach Luník IX fährt auch nicht von derselben Haltestelle weg, wie alle anderen. Wer in Košice unterwegs ist, der sieht nicht, dass es hier auch eine Siedlung gibt, in welcher Menschen weder Strom noch Zugang zu Warmwasser haben.
Auf einem Quadratkilometer wohnen hier rund 6.000 Menschen. Die Plattenbauten wurden um 1980 fertiggestellt und waren für 2.000 Bewohner:innen vorgesehen.
Lange hielt sich die Geschichte, dass die Roma Luník sozusagen "zerstört" hätten, dem widerspricht der Historiker Ondrej Ficeri von der slowakischen Akademie der Wissenschaften. Diese Geschichte sei eine Legende, erklärt Ficeri im Interview mit "Romea.cz". Die Stadt Košice habe Missmanagement betrieben, aber dafür nie Verantwortung übernommen. Die Roma-Familien wollten nicht nach Luník IX ziehen, sie konnten sich die Wohnungen auch nicht leisten. Dass das Klima in der Siedlung kippt, wurde politisch vorprogrammiert.
Weniger Müll und Hilfe beim Eigenheim
Luník IX ist gewiss keine Luxus-Wohngegend. Aber man versucht, das Beste daraus zu machen.
Die soziale Hilfsorganisation ETP Slovensko bietet in der Siedlung Mikrokredite ohne Zinsen an, um zu helfen, preiswerte Häuser zu bauen. Damit soll der Kreislauf der Armut durchbrochen werden. Das ist ein Meilenstein: Noch 2004 berichtete der "Spiegel", dass Roma in der Slowakei keine Bankkredite bekommen und wenn, dann mit 100 Prozent Zinsen. Denn die Geschichte der Roma ist von Armut geprägt, in Takt gehalten wird das System auch von diskriminierenden Vorurteilen.
Neben dem Community-Center der NGO in Luník IX steht eines dieser Häuser, der Bau hat rund ein Jahr gedauert. Das Land, auf dem gebaut werden darf, wird auf zwanzig Jahre von der Stadt gepachtet. Die Familien werden beim Bau unterstützt, sie bekommen einen Kredit, wirklich bauen müssen sie das Haus selbst.
Vor dem Eingang zur Siedlung, dort wo der Bus Nummer 11 ankommt, stehen kleine Häuser-Statuen aus Beton. Darauf sind Kinder zu sehen, Petra kennt ihre Namen, auch sie sind in Luník IX aufgewachsen. "Alle können Superhelden sein", das sollen die Statuen von Oto Hudec zeigen.
Europas größte Herausforderung
Roma ist die Ethnie der meisten Menschen, die hier leben. Roma-Kinder werden in Europa stark ausgegrenzt, ihre Situation ist vielleicht die größte sozial-politische Herausforderung der EU.
Die slowakische Regierung wird von Brüssel schon seit langem für ihre Politik gegenüber den Roma kritisiert. Der ehemalige Europäische Kommissar für Menschenrechte, Michael O’Flaherty, wiederholte diese anlässlich eines Besuchs im Juli 2024.
Erst im Januar 2024 nannte der slowakische Premier Robert Fico die Roma beim Weltwirtschaftsforum in Davos "Zigeuner", ein rassistisches Schimpfwort. Laut dem Populisten seien die Roma selbst schuld an ihrer Ausgrenzung. Für Roma-Abgeordnete in der Slowakei zementierten diese Kommentare rassistische Stereotype weiter ein und helfen niemandem.
Der EU-Menschenrechtskommissar stellte bei seinem Besuch fest, dass Roma in der Slowakei in jedem Lebensbereich diskriminiert werden. Mütter würden bei der Geburt von anderen Müttern getrennt, Roma Kinder werden in der Schule separiert.
"Viele Roma haben keinen Zugang zu Wohnraum und werden bei Bewerbungen abgewiesen." Es gebe auch Berichte darüber, dass Notfalldienste wie die Rettung diese Siedlungen in Notfällen nicht anfahren – die Gleichstellung sei eine "Frage von Leben oder Tod", so der EU-Kommissar.
Institutionalisierte Ausgrenzung
65 Prozent der Roma-Kinder im Alter zwischen 6 und 15 besuchen keine Schule wie die anderen slowakischen Kinder – sie besuchen eigene Roma-Schulen, so eine Erhebung der EU im Jahr 2021. Früher wurden sie in Schulen für Menschen mit Behinderungen gesteckt. Fast 90 Prozent der Roma, inklusive Kinder, sind armutsgefährdet, im Vergleich zu 10 Prozent der Rest-Bevölkerung in der Slowakei. 30 Prozent haben in der Slowakei keinen Zugang zu Leitungswasser.
Zentrale Themen in der Gleichstellung sind öffentliche Gesundheitspolitik und Bildung – hier würden NGOs grundlegende Arbeit leisten und müssten staatlich unterstützt werden, so der ehemalige EU-Kommissar.
"Müssten", denn jährlich bekommt die slowakische Regierung hunderte Millionen Euro für die Gleichstellung und Integration von Roma, insbesondere von Kindern. Ob das Geld ankommt, das beantwortet im Rahmen dieser Recherche niemand.
Das große Aufräumen
Bis vor wenigen Jahren stapelte sich vor den Plattenbauten der Müll. Heute sind die Grünflächen sauber. Es stehen Container herum, aber die sind offen, sagt Petra Kurutzová. Deshalb fliege einem der Müll ab und zu "um die Ohren".
Blickt man ein wenig weiter in die Ferne, lugt ein Bagger über die Baumwipfel. Unweit der Siedlung steht ein haushoher Müllberg, der Müllplatz für Gefahrenstoffe.
Gemäß den Vorgaben des slowakischen Verkehr- und Bauwesens muss ein Müllplatz 500 Meter von einer Siedlung und einen Kilometer von einer Schule entfernt sein. In Luník IX wird die Nähe zur Deponie deutlich unterschritten.
Sechs Schulen stehen hier im Umkreis der Deponie, so Martin Gális gegenüber der slowakischen Zeitschrift "Spectator" im Jahr 2020.
Kirche und NGOs
Wer nach Luník IX kommt, sieht schnell die Spuren eines prominenten Besuchers: 2021 hielt Papst Franziskus in dem Viertel einen Gottesdienst ab. Darauf weisen Bilder an den Mauern der Häuser hin. In der Salesianer Kirche wurde das Gewand und auch symbolische Fußabdrücke des Kirchenoberhauptes konserviert, erzählt der Priester Peter Veselský.
Seit 2008 sind die Salesianer in Luník IX aktiv, zu dieser Zeit war sogar der Bus-Verkehr in die Siedlung eingestellt. Am Anfang wohnten sie auch im Plattenbau, gegebenenfalls ohne Strom und ohne Wasser. Im Laufe der Jahre wurde eine Kirche gebaut, daneben liegt der Gemeinschaftswaschraum.
Nach der Führung in der Kirche wartet eine zierliche Frau auf uns. Sie könnte auch zwanzig sein. Erika heißt sie, sie ist vierzig und macht ihren Volksschulabschluss nach. Sie wohnt in einer der Dorf-Siedlungen, einige Autominuten entfernt von Luník IX.
Für sie war es einer der ersten Schultage, sie kennt in den Siedlungen niemanden und will lieber bei Petra sein. Auch das bietet ETP Slovensko an: Petra fährt Erika nach der Schule nach Hause nach Veľká Ida. Dort endet die asphaltierte Straße.
Hinter den Hügeln von Luník IX liegt eine der teuren Siedlungen der Stadt, sagt Petra. Aber es wohnen auch Menschen im Wald.
Als die Zustände in Luník erstmals medial polarisierten, riss die Stadt Gebäude ab. Das hatte zur Folge, dass die Menschen an den Waldrand in selbstgebaute Baracken zogen. Laut Medienberichten zog es viele von ihnen nach Ghent in Belgien oder England.
Auch Petra wuchs hier auf. Ihre Eltern besaßen ein Apartment, zogen aber weg. Für sie war es ein Zufall, nach dem Kunstpädagogik-Studium wieder Košice zu kommen.
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Auf dem Abstellgleis
Peter Pollák war bis 2024 Abgeordneter im Europäischen Parlament, immer wieder verwies er auf die Ungleichbehandlung der Roma in Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Gegen alle drei Staaten liefen Vertragsverletzungsverfahren. Erst 2023 stellte der Abgeordnete wiederholt fest, dass Roma gesellschaftlich immer noch segregiert werden und wollte dazu Antworten von der EU-Kommission, wie sie sicherstellen will, dass etwas gegen die strukturelle Ausgrenzung von Roma in Europa getan wird.
Die Agenturbilder zum Besuch des Papstes in Košice:
Geantwortet wurde bis heute nicht, auch ein Jahr nach der Fragestellung. Pollák ist mittlerweile nicht mehr Mitglied des EU-Parlaments, er veröffentlichte ein Kochbuch und hat nun eine Art YouTube-Sendung. Auf Fragen von PULS 24 zur Zukunft der Roma in der Slowakei antwortete er nicht.
Aber auf Facebook ist der Ex-Politiker sehr aktiv. Die Slowakei habe eine Milliarde an EU-Geldern bekommen, um sie für die Gleichstellung von Roma zu verwenden, der slowakische Ministerpräsident Robert Fico würde diese aber nicht verwenden.
Geld, Geld, Geld
Die Geschichte der Roma in Europa ist geprägt von vererbter Armut. Auch für Petra ist der Schlüssel, um die Situation der Menschen in Luník IX zu verbessern, Wohlstand zu generieren und diesen Kreislauf zu durchbrechen.
In ein paar Häusern in Luník IX wurden die Wasserleitungen bereits repariert, bei anderen gibt es Wasserzugang nur über den Hydranten auf der Straße. In der Mašličkovo Siedlung daneben gibt es kein fließendes Wasser. Wer dort lebt, muss Trinkwasser nach Hause transportieren.
Wasser und Strom müssen mit einem Kreditsystem vorbezahlt werden, damit niemand Schulden macht.
2023 stellte die EU-Kommission fest, dass in der Slowakei zu wenig für die Gleichstellung von Roma getan wird. Die Stadt Košice und die Verantwortlichen für die Siedlung reagieren nicht auf die Anfragen von PULS 24.
Weniger als 500 Kilometer von Wien entfernt, leben Menschen ohne Strom, ohne normalen Zugang zu Bildung und lokale Politiker geben ihnen dafür die Schuld. Was sagt das über Europa? Nichts Gutes, aber Kirche und NGOs versuchen, die Situation zu verbessern.
Transparenzhinweis: Die Reise in die Slowakei im Rahmen von "Eurotours" wurde vom Bundeskanzleramt mitfinanziert.
Zusammenfassung
- Ist das der "schlimmste" Ort Europas?
- Zu Besuch im slowakischen Roma-"Slum" Luník IX, einer Siedlung in der ost-slowakischen Stadt Košice.
- Wie geht Europa mit seinen Schwächsten um, und wer ist da, wenn die Politik nur Hetze kann?